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Archive des Aktivismus: Schweizer Trotzkist*innen im Kalten Krieg
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Matthias Fässler

Mit Trotzki gegen Schwarzenbach

Die 1968 lancierte Schwarzenbach-Initiative löste heftige Debatten aus, an denen sich auch Trotzkist*innen beteiligten. Mit klassenkämpferischer Hingabe schrieben sie gegen die erste sogenannte »Überfremdungsinitiative« an.

Die Schwarzenbach-Initiative hat sich wie kaum eine andere »Überfremdungsinitiative« in die Schweizer Migrationsgeschichte eingeschrieben. Als am 7. Juni 1970 54 Prozent der Stimmberechtigten die Initiative ablehnten, ging ein erbittert und zeitweise gehässig geführter Abstimmungskampf zu Ende, der bis heute nachhallt. Das liegt neben der historischen und politischen Bedeutung der Initiative auch an der beachtlichen Stimmbeteiligung: Mit 74,7 Prozent war diese so hoch wie seit der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1947 nicht mehr. Die Asyl- und Migrationspolitik sollte fortan zu einem der kontroversesten und polarisierendsten innenpolitischen Themen werden. Die Forderung der Initiant*innen war so trivial wie radikal: Sie verlangten eine Begrenzung der Zahl der »Ausländer« in jedem Kanton – mit Ausnahme Genfs – auf zehn Prozent der schweizerischen Staatsangehörigen.1 Rund 350000 Ausländer*innen hätten bei einer Annahme der Vorlage die Schweiz verlassen müssen.2

Die Initiative, benannt nach ihrem Ideen- und Taktgeber James Schwarzenbach, markiert somit eine Zäsur in der Schweizer Nachkriegsgeschichte. Zahlreiche Akteure beteiligten und engagierten sich an der Debatte rund um die Initiative: die Regierung, das Parlament, verschiedene Parteien, Wirtschaftsverbände, Medien, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und vereinzelt migrantische Organisationen.

Abb. 1: Der Abstimmungskampf rund um die Schwarzenbach-Initiative markiert einen Wendepunkt in der migrationspolitischen Debatte der Schweiz. Ihm folgten in rascher Kadenz weitere sogenannte »Überfremdungsinitiativen«.

Die Schweizer Trotzkist*innen hingegen erwischte die am 15. Mai 1968 lancierte Initiative auf dem falschen Fuss, denn sie fiel just in eine Zeit des organisatorischen Umbruchs. In den 1960er Jahren löste sich sowohl die Proletarische Aktion (PA) als auch der Sozialistische Arbeiterbund (SAB) auf. Überlebt hatte einzig die Zeitschrift Das Arbeiterwort, das zentrale Sprachrohr der beiden Organisationen, deren Publikation erst 1969 eingestellt wurde, obwohl sie bereits Ende der 1950er Jahre in politischer Bedeutungslosigkeit verschwunden war.3

Eine Wiederbelebung des Trotzkismus fand Ende der 1960er Jahre in der Romandie statt. Aus einer anfänglich lediglich oppositionellen Strömung innerhalb der Parti ouvrier et populaire (POP) entwickelte sich eine eigenständige, theoretisch und organisatorisch funktionierende trotzkistische Gruppe, welche die Abspaltung von der Partei vorantrieb. Im September 1969 gründeten Student*innen und junge Leute aus der Mittelschicht dann die Ligue marxiste révolutionnaire (LMR). Die erste Ausgabe des Zentralorgans der Gruppierung, La brèche, erschien im Folgemonat. Die Gründung der Organisation fällt damit genau in die Phase, in der die Schwarzenbach-Initiative, die im Juni 1969 zustande und ein Jahr später an die Urne kam, am präsentesten war.

Nationale Volksinitiativen stellen stets Momente erhöhter Aufmerksamkeit für politische Gruppierungen dar, zu denen sie sich positionieren können – oder müssen – und anhand derer sie um diskursive Deutungshoheit ringen. Dies wird umso bedeutender für politisch marginalisierte Gruppen, wie die trotzkistischen Organisationen. Mit der internationalistischen Ausrichtung, der Ablehnung von Patriotismus und seiner Orientierung an der Arbeiter*innenklasse musste der Trotzkismus zwangsläufig in Widerspruch zur nationalistisch argumentierenden Schwarzenbach-Initiative stehen. Zudem zielte Schwarzenbach argumentativ auch auf die Sorgen einfacher Arbeiter*innen, und konkurrierte so mit den Trotzkist*innen in ihrem agitatorischen Terrain. Wie also reagierten trotzkistische Organisationen in der Schweiz auf diese zunehmend identitätspolitisch geführte Diskussion um Überfremdung? Und wie reagierten sie selbst auf eine immer stärker migrantisch geprägte Gesellschaft?

Die Schweizer Trotzkist*innen erwischte die am 15. Mai 1968 lancierte Initiative auf dem falschen Fuss, denn sie fiel just in eine Zeit des organisatorischen Umbruchs.

Die Trotzkist*innen und die Überfremdung

Die Schwarzenbach-Initiative bildet nicht nur den Auftakt einer ganzen Reihe sogenannter »Überfremdungsinitiativen«, sie kennzeichnet auch den Beginn eines neuen Rechtspopulismus, der sich allmählich in ganz Europa Bahn zu brechen begann, Asyl- und Migrationspolitik als politisches Feld entdeckte und dieses für sich besetzte.

James Schwarzenbach, Sprössling einer protestantischen Zürcher Industriellenfamilie, hatte sich zeit seines Lebens im Dunstkreis rechtskonservativer Intellektueller, wie dem Freiburger Gonzague de Reynold oder dem Zürcher Jesuitenpater Richard Gutzwiler, bewegt. Schwarzenbach, in wechselnden Rollen als Journalist, Publizist, Verleger und Schriftsteller tätig, wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem der prominentesten und schillerndsten rechtsnationalen Intellektuellen in der Schweiz der Nachkriegszeit. Auch über die Landesgrenze hinaus stiess er auf politische Anerkennung.4 1967 kandidierte Schwarzenbach für die 1961 gegründete Nationale Aktion gegen die Überfremdung (NA), die spätestens durch die überraschende Wahl von Schwarzenbach in den Nationalrat den »Überfremdungs«-Diskurs wesentlich mitprägte.5

Dieser »Überfremdungs«-Diskurs war nicht gänzlich neu. Er steht in einer Kontinuität verschiedener rechtlicher und politischer Ausgrenzungsregularien gegenüber Ausländer*innen, die sich im Kontext des Ersten Weltkrieges erstmals intensiviert und sich danach dauerhaft in die Gesetze und Institutionen eingeschrieben hatten. Ausdruck davon sind etwa die Schaffung einer Fremdenpolizei 1914 oder das Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer*innen 1931. Ebenfalls nicht neu war die damit verbundene Stimmungslage: die Angst vor einer Überlagerung des schützenswerten »Eigenen« durch das bedrohliche »Andere«, die aus einer seit den 1880er Jahren zunehmend »volksnationalen» Identität hervorgegangen war.6

Das politische Schlagwort der »Überfremdung« wurde also nicht neu erfunden; es erhielt jedoch zu jener Zeit eine neue Virulenz.7 Schwarzenbach traf mit der Initiative den Nerv der Zeit, in welcher viele dem rasanten Tempo der ökonomischen und politischen Entwicklung nicht mehr folgen konnten.8 Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit, während der trente glorieuses, hatte auch in der Schweiz zu einer präzedenzlosen Einwanderung von Arbeitskräften geführt. Sie stammten mehrheitlich aus Südeuropa, insbesondere aus Italien und Spanien. Der Ausländer*innenanteil an der Wohnbevölkerung war von sechs Prozent in den ausgehenden 1940er Jahren auf rund fünfzehn Prozent 1965 angestiegen. Zwanzig Prozent aller Erwerbstätigen waren Ausländer*innen, im Baugewerbe lag der Anteil sogar bei fünfzig Prozent.9

Bis in die 1960er Jahre dominierte die Vorstellung, dass diese Arbeitsmigration nur vorübergehend sei und entsprechend der ökonomischen Nachfrage eingeschränkt werden könne. Doch mehr und mehr zeigte sich, dass sich immer mehr Arbeitsmigrant*innen dauerhaft in der Schweiz niederlassen wollten. Der Unmut jener, die vor »Überfremdung« warnten, wuchs. Aber auch seitens der Arbeitsmigrant*innen wurde Kritik formuliert an den Arbeitsbedingungen und dem diskriminierenden Aufenthaltsstatus, dem sogenannten Saisonnierstatut.10

Abb. 2: Die LMR/RML argumentierte klassenkämpferisch: Xenophobie spalte die Klasse der Arbeiter*innen.

In diesem Spannungsfeld wurde die Migrationspolitik auch für die Schweizer Trotzkist*innen zum Thema. Die Linkstendenz innerhalb der POP, aus der daraufhin die LMR entstand, grenzte sich gemäss dem Westschweizer Historiker Pierre Jeanneret unter anderem über die Forderung nach einem Wandel in der Migrationspolitik von ihrer Mutterpartei ab. Jeanneret schreibt:

»Dazu gehört auch, dass man sich mehr für das Problem der ausländischen Einwanderung interessiert und sich Ende der 1960er Jahre, als in der Schweiz eine Welle der Fremdenfeindlichkeit auszubrechen beginnt, stärker für die Verteidigung der Gastarbeiter einsetzt. Die linke Tendenz [später RML] warf der PdA immer noch vor, die Stimme der ausländischen Arbeiter zu überhören, aus Angst, ihrer Arbeiterbasis zu missfallen, die oft von fremdenfeindlichen Äußerungen getragen wird, und aus Sorge, durch den Zustrom kämpferischer italienischer oder spanischer Aktivisten überwältigt zu werden.«11

In der siebten Ausgabe von La brèche betonen die Autor*innen die Wichtigkeit ihrer Kampagne gegen die Schwarzenbach-Initiative, für welche die LMR alle ihre Kräfte aufgewendet hatte, und die man sich 1300 Franken kosten liess.12 Rückblickend betonte auch die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), eine Nachfolgeorganisation der LMR, die Bedeutung des migrationspolitischen Engagements:

Das politische Schlagwort der »Überfremdung« wurde nicht neu erfunden; es erhielt jedoch zu jener Zeit eine neue Virulenz.

»Unsere Partei misst seit ihrer Gründung im Jahr 1969 der Frage der Rechte der Immigranten eine ganz besondere Bedeutung zu. Dieser Kampf gegen ihre Diskriminierung spielt unseres Erachtens eine Schlüsselrolle im Aufbau einer starken Arbeiterbewegung, die fähig wäre, die Interessen der Lohnabhängigen in der Schweiz wirksam zu verteidigen.«13

Trotz des Umbruchs in den trotzkistischen Organisationen gegen Ende der 1960er Jahre sind zahlreiche Zeugnisse erhalten, die von einer Auseinandersetzung mit der Schwarzenbach-Initiative und migrationspolitischen Fragenstellungen zeugen. Auffällig ist, dass es fast ausschliesslich schriftliche, genauer publizistische Quellen sind. Aus der Recherche sind kaum andere Aktivitäten wie beispielweise Demonstrationen oder Flugblattaktionen bekannt, die im Namen trotzkistischer Organisationen durchgeführt wurden. Es lassen sich lediglich vier Diskussionsveranstaltungen in Vevey, Yverdon, Lausanne und Sainte-Croix im Vorfeld der Abstimmung belegen. Zudem verteilten Aktivist*innen in Sainte-Croix Flugschriften.14 Die vorliegende Untersuchung stützt also weitgehend – so viel sei vorweggenommen – das Bild des Trotzkismus in der Forschung als einer buch- und schriftfixierten politischen Bewegung.

Für die folgenden Ausführungen zentral ist zum einen Das Arbeiterwort. Die Zeitschrift wurde zwischen 1952 und 1969 publiziert – zunächst als »Organ der Proletarischen Aktion der Schweiz und der Sozialistischen Arbeiterkonferenz«, ab 1960 jedoch als »Organ des Sozialistischen Arbeiterbundes« (SAB). Sie erschien zeitweise monatlich, manchmal auch zweimal im Monat. Für die untersuchten Ausgaben, ab Dezember 1964, zeichnete jeweils Heinrich Buchbinder für die Redaktion verantwortlich. Die einzelnen Autor*innen der Artikel sind nicht ersichtlich. Im Arbeiterwort wurden sowohl Texte zu aktuellen Themen als auch solche theoretischer Art – darunter zahlreiche Texte Trotzkis – veröffentlicht.

Zum anderen bietet La brèche, die Zeitschrift der LMR, einen Einblick in die migrationspolitischen Auseinandersetzungen der Trotzkist*innen. Sie erschien ab Oktober 1969 monatlich in Lausanne und war das offizielle und wichtigste Parteiorgan der LMR. »La Ligue, en quelque sorte, c’est la brèche, et La brèche, c’est la Ligue«, schreibt der Westschweizer Historiker Benoît Challand.15 Ein Jahr nach der Gründung hatte die Zeitschrift etwa tausend Abonnent*innen. Das Redaktionsteam bestand aus einem Netz von rund zwanzig Redaktor*innen, einem Sekretariat, einem permanenten Techniker und einem Verantwortlichen für die Distribution.16 Die deutschsprachige Version der Zeitschrift, Die Bresche, erschien in Zürich, jedoch erst ab November 1971 und damit nach der Volksabstimmung über die Schwarzenbach-Initiative.

Grundsätzlich wird die Migrationspolitik sowohl im Arbeiterwort als auch in La brèche immer dann zum Thema, wenn sie sich in konkreten Ereignissen manifestiert, wie etwa im »Italiener-Abkommen« von 1964/65, einem bilateralem Abkommen zwischen der Schweiz und Italien, oder dann eben in der Schwarzenbach-Initiative. So erschienen zwischen 1965 und der Lancierung der Schwarzenbach-Initiative 1968 im Arbeiterwort keine migrationspolitischen Artikel. Und auch in La brèche wurde während der besagten Zeitspanne vornehmlich im Kontext tagespolitischer Ereignisse über Migrationspolitik geschrieben. Dies bestätigen quantitative Analysen aller in La brèche veröffentlichten Artikel, welche sowohl durch die LMR selbst als auch durch Challand vorgenommen wurden. 1970, im Jahr der Abstimmung, wurden acht Artikel zum Thema »Immigration« verfasst, was einen Anteil von 10 Prozent aller Artikel ausmacht. In den Folgejahren der Initiative bis 1974 publizierten die Autor*innen insgesamt sieben Artikel, 1974, als über die dritte »Überfremdungsinitiative« abgestimmt wurde, waren es deren neunzehn. Zur Relation: Im Jahr 1970 beschäftigten sich 39 Prozent aller Artikel mit »sozialen Kämpfen«, 13 Prozent mit »marxistischer Theorie«.17 Damit wird deutlich, dass die Trotzkist*innen jeweils auf migrationspolitische Aktualitäten reagierten und nicht von sich aus die politische Agenda setzten.

Geteilte Linke – »Klasse« versus »Identität«

Die Schwarzenbach-Initiative offenbarte, wie gespalten die politische Linke in migrationspolitischen Fragen war. Die politischen Lager und Frontstellungen präsentierten sich für einmal nicht so klar wie bei anderen Konflikten während des Kalten Kriegs. So waren es bereits in den 1950er Jahren die Gewerkschaften und andere linke Organisationen, aus denen Kritik an »Überfremdung« laut wurde. War dieser Diskurs anfangs primär ökonomisch geprägt – kritisiert wurden etwa verschärfte Konkurrenzverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt oder die Gefährdung des Arbeitsfriedens –, so wurde er in den 1960er Jahren zunehmend von Akteuren wie der NA (Nationale Aktion gegen die Überfremdung) geprägt, und ethnisiert. Migrationspolitik mutierte zu einer kulturellen und identitätspolitischen Frage.18

Die Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative trieb denn auch einen Keil in die Arbeiter*innenbewegung und stellte die Linke vor ein Glaubwürdigkeitsproblem. Hatten die Gewerkschaften in den 1960er Jahren noch vor »Überfremdung« gewarnt und Gegenmassnahmen gefordert, mussten sie ihrer Basis nun erklären, dass die Initiative nicht das richtige Mittel darstelle. Während sich die Führung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) gegen die Initiative aussprachen, befürworteten grosse Teile der Arbeiter*innenbasis das Anliegen. Rund 55 Prozent der Mitglieder des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) stimmten für die Initiative.19

Die SP, die ebenso wie der SGB in die politische Nachkriegsordnung eingebunden worden war, hatte bereits ab den frühen 1940er Jahren einen politischen Richtungswechsel vollzogen. Die Partei als klassische Vertreterin der Arbeiter*innenbewegung sprach fortan nicht mehr von einer Systemalternative zum Kapitalismus, sondern strebte innerhalb des wirtschaftlichen Systems Reformen an. Damit verbunden war eine Abkehr von der ehemals internationalistischen Ausrichtung hin zu einer vermehrt »nationalen Problemwahrnehmung«.20 Damit brach die SP mit dem Paradigma, das gerade für Trotzkist*innen zentral war: Die Überzeugung, dass sich Lohnarbeiter*innen über ihre Klassenzugehörigkeit definieren, und nicht über nationale oder ethnische Identität.

Die Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative trieb einen Keil in die Bewegung und stellte die Linke vor das Problem, glaubwürdig zu erscheinen.

Im Gegensatz zur SP nahm beispielsweise die Partei der Arbeit (PdA), die Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS), weiterhin eine dezidiert klassenkämpferische Position ein, und bekämpfte deshalb die Schwarzenbach-Initiative. Immigrant*innenorganisationen, allen voran die Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS), griffen ebenfalls in die Debatte ein. Die 1943 gegründete Organisation stand in einer klassenkämpferischen, antifaschistischen Tradition und versuchte, dem Diskurs um kulturelle Überfremdung eine Debatte um den Klassengegensatz zwischen Arbeiter- und Unternehmerschaft entgegenzusetzen.21

Die Debatte um das Spannungsverhältnis der Kategorien »Klasse« und »Identität« hat heute im Zuge rechtspopulistischer Wahlerfolge in ganz Europa zugenommen. Der französische Soziologe Didier Eribon erklärt aus den Erfahrungen seiner eigenen Biographie die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien durch die Abwendung linker Parteien von der »Klassenfrage«. Er schreibt: »Ich habe in meiner Familie gesehen, wie sich das Weltbild verschoben hat. Aus ›Wir Arbeiter gegen die Bourgeoisie‹ wurde allmählich ›Wir Franzosen gegen die Migranten‹.«22 Schwarzenbach war es gelungen, diesen Paradigmenwechsel voranzutreiben. Die Trotzkist*innen versuchten, dieser Entwicklung eine ökonomistische Analyse und Deutung migrationspolitischer Fragen entgegenzustellen. Damit wollten sie die Lücke schliessen, welche sich durch den reformistischen Wandel der Sozialdemokratie aufgetan hatte.

Wie also argumentierten und positionierten sich die Trotzkist*innen in der Schweiz gegenüber dem beschriebenen Paradigmenwechsel? Werfen wir zuerst einen Blick auf Das Arbeiterwort. Im Nachgang zum »Italiener-Abkommen« von 1964/65 erschien im Arbeiterwort eine Kurzgeschichte mit dem Titel »Der Fremdling«. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive die Geschichte einer Person, die im Tram eine Begegnung mit offensichtlich fremdenfeindlichen Schweizern macht. Die Männer versperren einer italienischen Frau den Ausgang des Trams. »Die Chaibe Gotthardchinese, wenn das so weiter geht, sind wir bald nirgends mehr zu Hause.« Die Ich-Person skizziert dann zum Schluss der Geschichte eine Schweiz ohne »Fremdarbeiter«:

»Als ich an diesem Morgen ins Tram einsteige, ist das noch das blitzblanke Züritram? Schmutzige Wagen sinds, Dreckkisten. Da, plötzlich erstarre ich! Der erste Kehrrichtwagen rumpelt vorüber. Keine Männer, die die Eimer leeren. Hausfrauen im Morgenrock umstehen den Wagen und krampfen eigenständig die Kübel in die Höhe.«23

Die Kurzgeschichte steht mit dieser utilitaristischen und ökonomischen Argumentation durchaus sinnbildlich für das Argumentationsmuster, welche die Artikel vor der Schwarzenbach-Initiative im Arbeiterwort prägen. Es wird zum Beispiel betont, dass italienische Bauarbeiter der Schweiz nützen würden, da sie vielfach mehr Wohnraum bauen, als sie benötigen.

Abb. 3: Migrationspolitische Artikel erschienen im Arbeiterwort bei konkreten politischen Ereignissen wie Initiativen besonders häufig.

Durchaus erstaunlich ist, dass das Arbeiterwort in Artikeln zur Schwarzenbach-Initiative gewissermassen das Narrativ einwanderungskritischer Akteure übernahm und festhielt, dass der »Ausländerbestand« in der Schweiz zu hoch sei. Die durch den »raschen Zustrom von fast einer Million grössern Teils fremdsprachiger Menschen« geschaffenen Probleme würden die Arbeiterbewegung »[…] noch lange Jahre hinaus auf eine entscheidende Bewährungsprobe stellen […]«, so die unbekannten Autor*innen im Arbeiterwort. Die schweizerische Bevölkerung könnte die grosse Anzahl nicht mehr »verdauen«. Fälschlicherweise werde jedoch die Schuld für gewisse Probleme bei den Fremdarbeiter*innen gesucht, »[…] statt richtig beim kapitalistischen System […]«. Die Autor*innen beschreiben den ökonomischen Nährboden, auf dem der Rassismus in der Schweiz zu gedeihen schien. Der hohe Ausländer*innenanteil, eine Folge der wirtschaftlichen Nachfrage, führe zu Fremdenfeindlichkeit mit »eindeutig faschistischen Tendenzen«. Rassismus und Kapitalismus werden damit in ein direktes Kausalitätsverhältnis gesetzt. Rassismus existiert, weil Kapitalismus existiert, so die These.24

Die Argumentationsmuster im Arbeiterwort offenbaren aber auch Widersprüche. Oft ist die Rede von der einheimischen Wirtschaft, die von einer Reduktion ausländischer Arbeitskräfte getroffen würde, womit auch Schweizer*innen von einer Annahme der Schwarzenbach-Initiative betroffen wären. Gleichzeitig wird eine internationalistische Perspektive stark gemacht, welche die Arbeiter*innen nicht nach ihrer Herkunft, sondern nach ihrem Status als Arbeiter*innen definiert. Dieses Nebeneinander von nationalen Forderungen und einer internationalistischen Ausrichtung scheint für den SAB (Sozialistischen Arbeiterbund) schon früher charakteristisch gewesen zu sein. In einem Grundsatzpapier mit dem Titel »Weg und Ziel der Sozialistischen Linken«, an dem auch Heinrich Buchbinder mitgearbeitet hatte, findet sich der Grundsatz »Wir sind schweizerisch und national« und ein Bekenntnis zum »arbeitenden Schweizervolk« – daneben jedoch auch das Paradigma »Solidarität und Internationalismus«.25

Die Einheit der Arbeiter*innenklasse

In Bezug auf die LMR sind vor allem zwei Artikel von besonderem Interesse. Die zweite Nummer von La brèche vom Januar 1970 nimmt erstmals explizit Bezug auf die Schwarzenbach-Initiative.26 Unter dem roten Titel »La brèche« illustriert ein Schwarz-Weiss-Foto eine Familie, die auf eine Wohnbaracke zuläuft. Dieser Blick von aussen auf die Schatten dreier Menschen verweist auf die Lebensbedingungen der Arbeitsmigrant*innen. Unter dem Bild prangt ein Zitat der Nationalen Aktion: »Wir erwarten vom Bundesrat [...] die Abschaffung des Kontingentsystems für Saisonniers und die Reduzierung der jährlichen Aufenthaltserlaubnis.«27

Die angedeutete Anonymität und Verletzlichkeit der Menschen auf dem Bild kontrastiert hier mit der radikalen Forderung der NA. Gleich zu Beginn des ersten Artikels zur Initiative wird moniert, dass von der Initiative, die sich chauvinistischen und rassistischen Argumenten bediene, vor allem die migrantischen Organisationen, wie die FCLIS oder die Association des travailleurs espagnols en Suisse, betroffen seien. Diesen ausländischen Arbeiter*innen attestieren die Autor*innen im Text jedoch wenig »Klassenbewusstsein«. Viele von ihnen würden aus »unterentwickelten« Gegenden im Süden Europas kommen und keine »Klassen- und Solidaritätstradition« besitzen. Diese durchaus paternalistische Wahrnehmung ist insofern beachtlich, als sie der Wahrnehmung gewisser Gewerkschaften, aber auch der Fremdenpolizei, welche in den Arbeitsmigrant*innen eine kommunistische Bedrohung und streikerfahrene Aktivist*innen sahen, diametral widersprach.

Der Rest des Artikels verweist punktuell auf das Argumentationsmuster und die Rhetorik, die uns bereits im Arbeiterwort begegnet sind, und die in der Broschüre Capitalisme Suisse et travailleurs étrangers ebenfalls prägend ist: Die Xenophobie wird als direkte Folge und Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse, »des Systems«, betrachtet. »Der Schweizer Kapitalismus ist daher in erster Linie für die fremdenfeindlichen und nationalistischen Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse verantwortlich.«28

Abb. 4: Der Blick von aussen: Die Lebensbedingungen vieler Saisonniers waren katastrophal. In den migrationspolitischen Debatten blieben sie oftmals stimm- und gesichtslos.

Das wirksamste Mittel des Widerstandes sei daher die Einheit der Arbeiterklasse. Das Narrativ der »Einheitsfront«, das verschiedene Schichten und soziale Lagen von Arbeiter*innen wie Frauen, Migrant*innen, Facharbeiter*innen zusammenfasst, war zentral für den marxistisch orientierten Flügel der Arbeiter*innenbewegung. Umso erstaunlicher ist an dieser Stelle, dass – wie bereits im SAB-Grundsatzdokument aus den 1950er Jahren – ethnisierend von der »Schweizer Arbeiterklasse« als solcher gesprochen wird, jedoch gleichzeitig Immigrant*innen dazu gezählt werden. Auch die LMR scheint sich bezüglich der Initiative also schwer getan zu haben, eine nationale Problematik internationalistisch zu beantworten.

Der zweite zentrale Artikel in La brèche erschien im März 1970 und befasste sich mit dem Rundschreiben (»un document significatif!«) des Arbeitergeberverbands Association patronale de l'industrie des maschines (ASM), in welchem dieser vor der Annahme der Initiative warnt.29 Betont wird im Artikel wiederum die Notwendigkeit eines antikapitalistischen Kampfes: Die Arbeiterklasse müsse »attackieren«. Die grösste Sorge der »Kapitalisten«, so die Autor*innen, sei ohnehin nicht die Annahme der Schwarzenbach-Initiative, sondern vielmehr die Einheit der Arbeiterklasse, »[…] das heisst die politische Neuzusammensetzung der beiden Komponenten (national und ausländisch) der Schweizer Arbeiterklasse.«30 Den avantgardistischen Organisationen wie der LMR komme die Aufgabe zu, aufzuzeigen, dass es grundsätzlich um einen antikapitalistischen Kampf gehe. Die Gewerkschaften hingegen würden das Spiel der »Bourgeoisie« mitspielen.

Die Kritik an und die Betonung der ökonomischen Verhältnisse finden wir auch in der Broschüre Capitalisme Suisse et travailleurs étrangers (au sujet de l’initiative Schwarzenbach), welche die LMR einen Monat vor der Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative publizierte.31 Trotz ihres späten Erscheinungsdatums stellt sie den Versuch dar, eine gesamtheitliche und stringente Kritik an der Initiative zu formulieren und damit die einzelnen in La brèche publizierten Texte zusammenzufassen. Die Bildsprache des Titelblatts verrät die Kernthese der Broschüre. Sie zeigt zwei ineinander verschränkte, sich überlagernde Arme und geballte Fäuste. Aussagekräftig ist jedoch auch die Titelsetzung: Unter dem Bild prangt der Spruch »Schweizerische und Französische Arbeiter: ein gemeinsamer Kampf.«32 Der Zusatz »au sujet de l’initiative Schwarzenbach« lässt als Untertitel und in kleinerer Schrift verfasst darauf schliessen, dass es hauptsächlich um eine Analyse des Schweizer Kapitalismus gehe. Die Initiative und die migrantischen Arbeitskräfte bieten lediglich einen Anlass, darüber zu sprechen.

Der gesellschaftliche Gegensatz befindet sich also in der Lesart der LMR nicht zwischen In- und Ausländer*innen, sondern in einem Klassenantagonismus zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiter*innenklasse. Die Bedeutung der Initiative liege somit nicht in einer angeblichen kulturellen Überfremdung, sondern vielmehr in der strukturellen Politik der Bourgeoisie, die wiederum von den Migrationsbewegungen profitieren würde. Migration erscheint in dieser Deutung stets als eine abhängige Variable des Kapitals, beziehungsweise der kapitalistischen Produktionsweise.

Ins Kreuzfeuer der Kritik geraten in der Broschüre auch die Gewerkschaften. Ihnen wird vorgeworfen, durch ihre Zusammenarbeit mit der »Bourgeoisie« die Xenophobie zu befeuern und ganz allgemein zum Erfolg des Kapitalismus beizutragen. Aus Angst, dass das Interesse an den Gewerkschaften immer stärker abnehme, hätten diese begonnen, die Interessen des Kapitals zu verteidigen und an nationalistische Affekte der Arbeiter*innen zu appellieren. Die Gewerkschaften, so die Autor*innen der Broschüre, würden Hand in Hand mit der »Bourgeoisie« eine Form von Humanismus vertreten, die lediglich eine bösartige Fremdenfeindlichkeit in einen gesunden Nationalismus zu transformieren versuche.

Der Vorwurf der »Bürokratisierung« wird wiederkehrend an die Gewerkschaften gerichtet, wobei der Fokus vor allem auf dem SGB liegt. Die zunehmende Bürokratie sei Ausdruck der Verzweiflung über die Unfähigkeit, die Arbeiter*innenklasse zu kontrollieren. Zweifellos ist diese Kritik an der Bürokratisierung der Gewerkschaften im Kontext einer allgemeinen trotzkistischen Kritik an der Bürokratisierung der UdSSR zu lesen. Trotzki hatte bereits 1923 begonnen, die Bürokratisierung als gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen und zu kritisieren. Er sprach von einer »bürokratischen Konterrevolution«, die in den Fünfjahresplänen wie auch im Grossen Terror der 1930er Jahre ihren Ausdruck gefunden habe. Die allgemeine Kritik an den Gewerkschaften wird denn auch mit explizitem Bezug auf Trotzki begründet. Bereits 1940 hatte dieser die Tendenz der Gewerkschaften in imperialistischen Staaten beobachtet, eine Verlängerung des Staatsapparates und »Garant der Arbeitskraft« zu sein. Trotzki spricht von einer Degeneration der modernen gewerkschaftlichen Organisationen auf der ganzen Welt: »Ihre Annäherung an die Staatsgewalt und das Verschmelzen mit ihr.«33

Aus der offenen Kritik an den Gewerkschaften leitet die LMR drei Ziele ab: die Gründung neuer, »roter« und revolutionärer Gewerkschaften, das Eintreten in bereits bestehende Gewerkschaften, um diese zu verändern und darin individuell zu kämpfen, und letztlich die Bekämpfung derjenigen Gewerkschaften, welche die Kämpfe unterbinden und die Arbeiter*innenautonomie behindern würden. Speziell im zweiten Punkt zeigt sich exemplarisch die trotzkistische Praxis des Entrismus, die im internationalen Trotzkismus immer wieder kontrovers diskutiert wurde. Die LMR hält grundsätzlich in diesem Text daran fest, dass Gewerkschaften die wichtigste Organisierungs- und Mobilisierungsplattform der Arbeiter seien. Mit Verweis auf Trotzki und seinen Text »Kommunismus und Syndikalismus« von 1929 sprechen sie von einem Verhältnis der »Unterordnung« der Gewerkschaft unter die Partei.34 In dieser Lesart soll die LMR die Position der revolutionären Partei einnehmen, der »autonome Organe« und dann eine gewerkschaftliche Basis untergeordnet sind.35

Die blinden Flecken

Die Lebensrealitäten der Migrant*innen finden sowohl im Arbeiterwort, als auch in La brèche keinen Raum. Die Migrant*innen bleiben stimm- und gesichtslos. Sie erscheinen nicht als eigenständige Akteure, sondern vielmehr als politischer Gegenstand, über den verhandelt wird. Damit bleiben Fragen nach Identität, nach kultureller Differenz, nach der Abgrenzung des »Eigenen« zum »Anderen«, aber auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit Rassismus auf der Strecke, wie sie etwa der bekannte und in der LMR durchaus populäre Trotzkist Ernest Mandel in seiner Einführung in den Marxismus später fordern sollte.36 Die Migrant*innen werden – wenn überhaupt – als Teil der Arbeiter*innenklasse adressiert.

Bei der Auseinandersetzung um die Schwarzenbach-Initiative ging es also diskursiv immer auch um Sprecher*innenpositionen, spezifisch um die Frage, wer für und im Namen der Arbeitsmigrant*innen spricht. Die Trotzkist*innen übernehmen eine Fürsprecherfunktion und stellen die Arbeitsmigrant*innen als (noch) unpolitische, unmündige und anonymisierte Masse dar, welcher der Klassenkampf erst noch ins Bewusstsein gerückt werden muss.

Der gesellschaftliche Gegensatz befindet sich in der Lesart der LMR nicht zwischen In- und Ausländer*innen, sondern in einem Klassenantagonismus zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiter*innenklasse.

Es gab keine Zielformulierung, Migrant*innen für die trotzkistischen Organisationen zu gewinnen, woraus man schliessen kann, dass die Zeitschriften von Migrant*innen kaum gelesen wurden. Die politischen und theoretischen Auseinandersetzungen rund um die Schwarzenbach-Initiative blieben grösstenteils ein politischer Monolog – dies, obwohl sie die Möglichkeit geboten hätten, mit Migrant*innenorganisationen zusammenzuspannen. Gerade im Zuge der durch die Arbeitsmigration stattfindenden Unterschichtung hätten diese Organisationen eigentlich zu den politischen Hauptadressat*innen zählen können.

Die Quellen und die Literatur zeigen, dass die LMR erst nach der Initiative begann, mit Migrant*innenorganisationen zusammenzuarbeiten und sich explizit an diese zu wenden. Insofern stellte die sogenannte »Überfremdungsintiative« vielleicht einen Weckruf dar. Die Zeitschrift Rojo ist das beste Beispiel dafür. Rojo war ein spanischsprachiges Periodikum, das die LMR zusammen mit der Spanischen Sektion des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale (VSVI), der Liga Comunista Revolucionaria (LCR/ETA IV) zwischen 1973 und 1976 publizierte.37 Die Zeitschrift bricht ein erstes Mal mit der publizistischen und politischen Praxis des Redens über Migrant*innen, welche im Arbeiterwort und der LMR bis Anfang der 1970er Jahre gepflegt wurde. Vielmehr lässt sie diese selbst zu Wort kommen.

Dennoch wiederholte der Schweizer Trotzkismus Mechanismen der Ausgrenzung, wie sie der Historiker Angelo Maiolino für die italienischen Arbeitskräfte in der Schweiz beschrieb:

»All diese Diskriminierungspraktiken wurden von der Stimm- und Gesichtslosigkeit der italienischen Migranten begleitet. Entweder weil sie als Ent-Individualisierte in ein bedrohlich dargestelltes Grossindividuum eingeschlossen wurden oder weil ihre Sprache subaltern gegenüber den dominanten Bedeutungsschablonen blieb.«38

Die fehlende Auseinandersetzung im Arbeiterwort oder La brèche mit den Argumenten Schwarzenbachs bildet einen weiteren blinden Fleck. Schwarzenbach argumentierte zwar primär kulturalistisch und konstruierte eine Bedrohung der Schweiz durch Ausländer*innen und Kommunist*innen. Schwarzenbach trat aber darüber hinaus auch als prominenter Kritiker des Grosskapitals auf. Mit seiner Kritik an der Konkurrenzgesellschaft, der »anonymen Wirtschaftsdiktatur«, der »trostlosen, von Fernseher und Presse manipulierbaren Massen-Konsum-Gesellschaft« oder am »rein kommerziellen Denken« schrieb er paradoxerweise gegen ein Milieu an, dem er selber entstammte.39 Er formulierte damit eine Art Kapitalismuskritik von rechts, die durchaus dasselbe Zielpublikum adressierte wie die Voten der trotzkistischen Gruppierungen. Schwarzenbach erinnerte sich später: »Es schien mir fast grotesk, dass meine zukünftigen Freunde ausgerechnet im Arbeiterquartier zu finden waren.«40 Die Nationale Aktion habe zu Beginn in sozialpolitischen Themen die Linke unterstützt, schrieb Schwarzenbach. Sie sei jedoch nicht internationalistisch, sondern »hundertprozentig vaterländisch« orientiert gewesen.

In dieser nationalen oder ethnisierenden Thematisierung der sozialen Frage lag durchaus Spannungspotential, grub Schwarzenbach doch damit den Trotzkist*innen im Arbeiter*innenmilieu gewissermassen das Wasser ab. Wie Analysen zeigen, stiess die Initiative gerade in Arbeiter*innenkreisen und im Bauerntum auf Sympathien. Die ausländischen Arbeiter*innen hingegen erachtete Schwarzenbach durchweg als subversive Kommunist*innen, die den durch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften während Jahrzehnten erfolgreich ausgehandelten Arbeitsfrieden bedrohten.41

Abb. 5: Das zwischen 1973 und 1976 publizierte Periodikum Rojo war der erste Versuch der RML sich direkt an ausländische Arbeiter*innen zu wenden und mit diesen zusammenzuarbeiten.

In der Broschüre Capitalisme Suisse et travailleurs étrangers, aber auch bereits im Arbeiterwort fällt auf, dass, abgesehen von der Gewerkschaftskritik, eine Auseinandersetzung mit anderen linken Gruppierungen fehlt. Wie stand man zur FCLIS, die durchaus klassenkämpferisch argumentierte? Wie gestaltete sich im Zuge der Abstimmung das Verhältnis zur PdA und zur FASS (Fortschrittliche Arbeiter, Schüler und Studenten)? Letztere gründete zusammen mit anderen sozialistischen Organisationen die Plattform »Kampagne für die Einheit der Arbeiterklasse«.42 Aus den konsultierten Quellen geht nicht hervor, dass die Trotzkist*innen Teil davon waren oder sich damit auseinandersetzten.

Die Feststellung, dass die Auseinandersetzung mit der Schwarzenbach-Initiative im Arbeiterwort, aber auch die der LMR auf verschiedenen Ebenen ein politischer Monolog blieb, zeigt sich auch in der verwendeten Sprache: Die Texte – jene der LMR mehr als jene im Arbeiterwort – kennzeichnet ein komplizierter Satzbau und komplexe Inhalte. In diesem theoretischen und intellektuellen Gestus zeigt sich der avantgardistische Anspruch an die eigenen Organisationen. Die Texte setzen theoretische und politische Vorkenntnisse voraus und richteten sich wohl primär an Aktivist*innen aus den eigenen Reihen. Challand schreibt dazu: »Der sehr intellektuelle, und folglich, elitäre Charakter der Organisation lässt wenig Raum für Personen ohne akademische Ausbildung.«43

Die Rezeption und Aussenwirkung der trotzkistischen Organisationen und Zeitschriften rund um die Schwarzenbach-Initiative kann hier nicht abschliessend behandelt werden. Dazu wäre eine vertiefte Diskursanalyse nötig, die auch andere Zeitschriften und Zeitungen miteinbezieht. Die gesichteten Quellen legen jedoch die Vermutung nahe, dass die Trotzkist*innen von grösseren nationalen Zeitungen kaum wahrgenommen wurden. Dadurch gibt es auch keine zeitgenössische Aussensicht auf die Organisationen und deren Rolle während des Abstimmungskampfes zur Schwarzenbach-Initiative. Abgesehen von Mitglieder- und Abonnent*innenzahlen der LMR, die jedoch erst nach der Initiative erhoben wurden, fehlen uns leider Angaben über die Reichweite der Publikationen.

Die Initiative als Weckruf

Die Schwarzenbach-Initiative legt also den Blick frei auf die »lückenhafte Geschichte« des Schweizer Trotzkismus.44 Die LMR stand zu Beginn jedoch vor allem vor organisatorischen Herausforderungen, die Artikel und die Broschüre Capitalisme Suisse erschienen deshalb erst kurz vor der Abstimmung.

Die zu Beginn erwähnten Selbstverortungen der SAP zu ihrem Gründungskontext müssen, wenn nicht widerlegt, so doch in Zweifel gezogen werden. Der »Kampf« für die »Rechte der Immigrant*innen« und »gegen ihre Diskriminierung« nahm zumindest im Kontext der Schwarzenbach-Initiative noch keine Schlüsselrolle ein. Vielmehr bot die Initiative, wie auch die Frage der »Fremdarbeiter«, dazu Anlass, eine grundsätzlich ökonomische, ergo: klassenkämpferische Position zu popularisieren. Dies geht allerdings auf Kosten einer subjektivierenden Darstellung der von der Initiative hauptsächlich Betroffenen: den Migrant*innen. Den Trotzkist*innen gelang es also nicht, eine nationale Initiative internationalistisch umzumünzen. Trotz der Betonung des Klassenantagonismus fehlte zu einer weiterführenden internationalistischen Betrachtung jeglicher Versuch.

Dass die LMR nach der Initiative begann, mit Migrant*innenorganisationen zusammenzuarbeiten und sich auch explizit an diese zu wenden, kann bedeuten, dass sich der kulturalistische Antagonismus, zwischen einem »schweizerischen Wir« und einem »fremdländisch Anderen«, dass sich diese konstruierten Identitäten, allmählich aufzulösen begannen. Um dieser Frage nachzuspüren, täten weitere historische Studien not, welche die jüngere Geschichte der Schweizer Trotzkist*innen in den Blick nehmen würden.

Längerfristig lässt sich zudem eine zunehmende Bündnisstrategie beobachten. In den 1980er Jahren war die Revolutionäre Marxistische Liga (RML), wie sich die Organisation in der Deutschschweiz nannte, beziehungsweise deren Nachfolgeorganisation, die oben erwähnte SAP, Teil der überparteilichen Arbeitsgemeinschaft »Mitenand«, welche mit der gleichnamigen Volksinitiative eine »humanere Ausländerpolitik« forderte. Daraus wiederum entstand später die Bewegung für eine offene und demokratische Schweiz (BODS), die Vorläuferorganisation von Solidarité sans frontières (SOSF), ein heute noch aktiver und wichtiger antirassistischer, zivilgesellschaftlicher Akteur in der Migrationspolitik.

Matthias Fässler hat den Master in Geschichte an der Universität Zürich abgeschlossen und absolviert aktuell eine journalistische »Stage« bei der Wochenzeitung WOZ.

Die Initiative, wie auch die Frage der »Fremdarbeiter«, bot dazu Anlass, eine grundsätzlich ökonomische, ergo: klassenkämpferische Position zu popularisieren.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Josef Schmid, Plakate Überfremdungsinitiative, in Basel, Oktober 1974, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv.

Abb. 2: Revolutionäre Marxistische Liga, Abziehbild gegen die Schwarzenbach-Initiative, 1974, Schweizerisches Sozialarchiv (SozArch) F 5053-Ob-222 (1971-1980).

Abb. 3: Titelseite, in: Arbeiterwort, Nr. 8, Jg. 20 (April 1965), SozArch (Ausschnitt).

Abb. 4: Titelseite, in: La brèche, Nr. 2 (22.01.1970), SozArch.

Abb. 5: Titelseite, in: Rojo, Nr. 9 (11.09.1974), SozArch.

Literatur
  1. 1

    Vgl. Thomas Buomberger: Kampf gegen unerwünschte Fremde: Von James Schwarzenbach bis Christoph Blocher, Zürich: Orell Füssli (2004), S. 97/S. 132.

  2. 2

    Vgl. Isabel Drews: »Schweizer erwache!«: Der Rechtspopulist James Schwarzenbach (1967–1978), Frauenfeld: Verlag Huber (2005), S. 76.

  3. 3

    Vgl. Robert J. Alexander: International Trotskyism 1929–1985: A Documented Analysis of the Movement, Minneapolis: Duke University Press (1991), S. 732; Daniel Bensaïd: Was ist Trotzkismus?, Köln: Neuer ISP-Verlag (2004), S. 18.

  4. 4

    Vgl. Isabel Drews: »Schweizer erwache!«: Der Rechtspopulist James Schwarzenbach (1967–1978), Frauenfeld: Verlag Huber (2005), S. 57–59.

  5. 5

    Vgl. Damir Skenderovic, Gianni D’Amato: Mit dem Fremden politisieren: Rechtspopulismus und Migrationspolitik in der Schweiz seit den 1960er Jahren, Zürich: Chronos (2008), S. 32–34.

  6. 6

    Vgl. Jakob Tanner: »Nationalmythos und ›Überfremdungsängste‹: Wie und warum die Immigration zum Problem wird, dargestellt am Beispiel der Schweizer Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Udo Rauchfleisch (Hg.): Fremd im Paradies. Migration und Rassismus, Basel: Lenos Verlag (1994), S. 17f.

  7. 7

    Vgl. Isabel Drews: »Schweizer erwache!«: Der Rechtspopulist James Schwarzenbach (1967–1978), Frauenfeld: Verlag Huber (2005), S. 179–181.

  8. 8

    Vgl. Angelo Maiolino: Als die Italiener noch Tschinggen waren: Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative, Zürich: Rotpunktverlag (2011), S. 122f.

  9. 9

    Vgl. Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: Beck (2015), S. 338–340.

  10. 10

    Vgl. ebd.

  11. 11

    Pierre Jeanneret: Popistes: Histoire du parti ouvrier et populaire vaudois 1943–2001, Lausanne: Editions d’En Bas (2002), S. 184f. Übersetzt aus dem Französischen: »C’est-à-dire aussi montrer davantage d’intérêt pour le problème de l’immigration étrangère et agir plus vigoureusement pour la défense des travailleurs immigrés, en cette fin des années 60 où une vague de xénophobie commence à déferler sur la Suisse. La Tendance de gauche reproche encore au PST de ne guère entendre la voix des travailleurs étranger, par crainte de déplaire à sa base ouvrière, souvent portée aux propos xénophobes, et par peur d’être submergée par l’afflux de militants italiens ou espagnols plus combatifs.«.

  12. 12

    Vgl. La brèche: organ bimensuel de la Ligue marxiste révolutionnaire (27.06.1970), S. 12.

  13. 13

    Sozialistische Arbeiterpartei: »Mitenand« für eine starke Arbeiterbewegung, Zürich: Veritas Verlag (1981), S. 1; Vgl. Robert J. Alexander: International Trotskyism 1929–1985: A documented analysis of the movement, Minneapolis: Duke University Press (1991), S. 736.

  14. 14

    Vgl. La brèche: organ bimensuel de la Ligue marxiste révolutionnaire (27.06.1970), S.12f.

  15. 15

    Benoît Challand: La Ligue marxiste révolutionnaire en Suisse romande (1969–1980), Fribourg: Chaire d’histoire contemporaine de l’Université de Fribourg (2000), S. 173.

  16. 16

    Vgl. ebd., S. 129–131.

  17. 17

    Ebd., S. 145/S. 156/S. 264.

  18. 18

    Vgl. Thomas Buomberger: Kampf gegen unerwünschte Fremde: Von James Schwarzenbach bis Christoph Blocher, Zürich: Orell Füssli (2004), S. 36–38.

  19. 19

    Vgl. Damir Skenderovic, Gianni D’Amato: Mit dem Fremden politisieren: Rechtspopulismus und Migrationspolitik in der Schweiz seit den 1960er Jahren, Zürich: Chronos (2008), S. 35.

  20. 20

    Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: Beck (2015), S. 312.

  21. 21

    Vgl. Angelo Maiolino: Als die Italiener noch Tschinggen waren: Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative, Zürich: Rotpunktverlag (2011), S. 21/S. 177/S. 181.

  22. 22

    Didier Eribon: »Wir müssen uns viel lauter einmischen«, Interview von Alex Rühle, in: Süddeutsche Zeitung (24.11.2016).

  23. 23

    Das Arbeiterwort. Organ des Sozialistischen Arbeiterbundes, Zürich (April 1965), S.1.

  24. 24

    Ebd.

  25. 25

    »Weg und Ziel der Sozialistischen Linken«, Grundsatzpapier von 195– (genaues Jahr nicht bekannt), Schweizerisches Sozialarchiv (SozArch), D4203:2.

  26. 26

    La brèche: organ bimensuel de la Ligue marxiste révolutionnaire (Januar 1970).

  27. 27

    Übersetzt aus dem Französischen: »Nous attendons du conseil fédéral[...] la suppression du régime de contingentement des saisonniers et la reduction des autorisations de séjour annuelles.«.

  28. 28

    Übersetzt aus dem Französischen: »Le capitalisme suisse est donc le premier responsable des tendance xénophobes et nationalistes qui se manifestent au sein de la classe ouvrière.«.

  29. 29

    La brèche: organ bimensuel de la Ligue marxiste révolutionnaire (März 1970), S. 4f.

  30. 30

    Übersetzt aus dem Französischen: »[…] c'est-à-dire la recomposition politique des deux composantes (nationale et étrangère) de la classe ouvrière suisse.«

  31. 31

    Ligue Marxiste Révolutionnaire (Hg.): Capitalisme Suisse et travailleurs étrangers: Au sujet du l’initiative Schwarzenbach, Lausanne (1970).

  32. 32

    Übersetzt aus dem Französischen: »travailleurs suisses et étrangers: un seul combat.«

  33. 33

    Leo Trotzki: »Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs«, August 1940, posthum veröffentlicht in: Fourth International 2 (2), Februar 1941.

  34. 34

    Ligue Marxiste Révolutionnaire (Hg.): Capitalisme Suisse et travailleurs étrangers: Au sujet du l’initiative Schwarzenbach, Lausanne (1970), S. 82.

  35. 35

    Ebd., S. 87.

  36. 36

    Vgl. Ernest Mandel: Einführung in den Marxismus, Frankfurt am Main: ISP-Verlag (1979), S. 70.

  37. 37

    Rojo: suplemento para la emigración española de la prensa de la liga marxista revolucionaria (suiza) con la colaboración de la liga comunista revolucionaria-eta IV. (españa), Lausanne, 1973-1976; Vgl. Robert J. Alexander: International Trotskyism 1929–1985: A Documented Analysis of the Movement, Durham: Duke University Press (1991), S. 735 sowie Frank Nitzsche: Aus dem Schatten in die Reichweite der Kameras: Die Entwicklung trotzkistischer Organisationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der neuen sozialen Bewegungen von 1968 bis heute, Siegen: Unveröffentlichte Dissertation (2006), S. 133.

  38. 38

    Angelo Maiolino: Als die Italiener noch Tschinggen waren: Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative, Zürich: Rotpunktverlag (2011), S. 31.

  39. 39

    Isabel Drews: »Schweizer erwache!«: Der Rechtspopulist James Schwarzenbach (1967–1978), Frauenfeld: Verlag Huber (2005), S. 225.

  40. 40

    James Schwarzenbach: Im Rücken das Volk, Zürich: Thomas Verlag (1980), S. 8.

  41. 41

    Vgl. Isabel Drews: »Schweizer erwache!«: Der Rechtspopulist James Schwarzenbach (1967–1978), Frauenfeld: Verlag Huber (2005), S. 75/S. 187.

  42. 42

    »Die Fremdarbeiterfrage – für eine sozialistische Alternative«, Broschüre 1970, SozArch, 02.3 C QS: 1970.

  43. 43

    Benoît Challand: La Ligue marxiste révolutionnaire en Suisse romande (1969–1980), Fribourg: Chaire d’histoire contemporaine de l’Université de Fribourg (2000), S. 189f.

  44. 44

    Robert J. Alexander: International Trotskyism 1929–1985: A Documented Analysis of the Movement, Durham: Duke University Press (1991), S. 737.