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Archive des Aktivismus: Schweizer Trotzkist*innen im Kalten Krieg
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Remo Cadalbert

Publizieren, politisieren: Der Veritas-Verlag

Der trotzkistische Veritas-Verlag wurde 1958 in Zürich gegründet. In den darauffolgenden dreizehn Jahren hat er nur ein einziges Buch herausgegeben, bevor er in den 1970er Jahren eine rege Verlagstätigkeit entwickelte. Damit folgte der Verlag der Konjunktur des Trotzkismus in der Schweiz.

Das Schreiben war eine der wichtigsten Formen des trotzkistischen Aktivismus. Obwohl alle trotzkistischen Organisationen in der Schweiz zwischen 1930 und 1989 an ihren Mitgliederzahlen gemessen schwach waren, entstand in ihrem Umfeld eine erstaunliche Fülle an publizierten Texten. Wie die meisten ausserparlamentarischen oder linkssozialistischen Organisationen hatte auch das trotzkistische Spektrum eigene Publikationsorgane. So existierten in rascher Abfolge verschiedene Zeitungsprojekte wie Trotz Alledem! (1935–1939), die Proletarische Aktion (1945–1951), Gegen den Strom (1948), Das Arbeiterwort (1952–1969) und die Bresche (1971–1994).1 Dazu kam eine Vielzahl an Pamphleten, Flugblättern und sonstigen gedruckten Texten zu aktuellen Themen.2

Anteil an dieser trotzkistischen Publikationstätigkeit hatte auch die Genossenschaft Veritas-Verlag in Zürich, deren Name (Latein für »Wahrheit«) sich sowohl an die von Leo Trotzki 1908 in Wien gegründete Zeitung Pravda (russisch ebenfalls für »Wahrheit«) als auch an die gleichnamige Zeitung der Bolschewiki anlehnt. Der Veritas-Verlag wurde 1958 gegründet, gab bis 1987 31 Publikationen heraus und existiert, zumindest in seiner rechtlichen Form, bis heute.

Ein Verlag als Forschungsgegenstand

Der Veritas-Verlag überdauerte mehrere Generationen von Schweizer Trotzkist*innen und wurde jeweils von den zeitgenössischen trotzkistischen Organisationen unterhalten. Warum war es für die Schweizer Trotzkist*innen so wichtig, einen eigenen Verlag zu haben? Und warum waren die in Eigenregie herausgegebenen Bücher und Broschüren – generell das Schreiben und Vertreiben von Drucksachen – so zentrale Aufgaben der politischen Betätigung?

Der Veritas-Verlag blieb bislang von der historischen Forschung praktisch unbeachtet – die Verlagsunterlagen sind nämlich erst seit 2013 öffentlich zugänglich. Dann wurden wichtige Dokumente dem Schweizerischen Sozialarchiv übergeben: Gründungsakten, Statuten, Protokolle, Rechnungsunterlagen, Steuerakten und Korrespondenz verschiedenster Art. Der Entstehungszeitraum dieser unvollständig zusammengestellten Dokumente erstreckt sich vom Gründungsjahr 1958 bis ins Jahr 1999, wobei die Dokumentation der Verlagsgeschichte aber grosse Lücken aufweist.3

Weiter ist im Nachlass von Jost von Steiger, der jahrzehntelang Mitglied trotzkistischer Organisationen und phasenweise eine wichtige Figur innerhalb der IV. Internationale war, Korrespondenz aus den Jahren 1962 bis 1965 in Bezug zum Veritas-Verlag erhalten.4 Dabei handelt es sich jedoch nur um einige wenige, das Rechnungswesen betreffende Dokumente und Briefe zwischen von Steiger und Ulrich Gujer, der in der Kontrollstelle des Verlags tätig war. Archivmaterial zum Veritas-Verlag findet sich ausserdem im Nachlass des trotzkistischen Publizisten Heinrich Buchbinder im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich.5 Buchbinder, Führungsfigur der Bewegung gegen die atomare Aufrüstung und langjähriger Sicherheitsexperte der SP, bewahrte Protokolle und Statuten, Papiere zum Handelsregistereintrag sowie juristische Korrespondenz zur Gründung des Verlags aus den Jahren 1957 bis 1959 auf.

Um die Aktivitäten des Veritas-Verlags nachzuvollziehen, wird das Archivmaterial mit einem zu diesem Zweck geführten Interview mit der langjährigen Verlagspräsidentin, Ursula Urech, ergänzt.6 Urech, die schon durch ihre Mutter mit linkssozialistischer Politik in Kontakt kam und ab 1971 in der trotzkistischen Revolutionären Marxistischen Liga (RML) engagiert war, ist heute noch offiziell als Kassierin des Verlags im Handelsregister eingetragen.7 Sie ist somit seit über vierzig Jahren am Veritas-Verlag beteiligt. Urechs Ausführungen ermöglichen es, zusammen mit den Archivdokumenten die Verlagsgeschichte zu veranschaulichen, in welcher sich gleichzeitig die Geschichte des Schweizer Trotzkismus widerspiegelt.

Abb. 1: Leo Trotzkis Verratene Revolution war das erste Buch, das im Veritas-Verlag erschien.

Trotz der geringen Aktivität des SAB und der Auflösung der PA blieb die Schreibtätigkeit der Trotzkist*innen erhalten.

Der Veritas-Verlag und der Schweizer Trotzkismus

Bei den Gründern des Veritas-Verlags handelte es sich um die Zürcher Speerspitze des Sozialistischen Arbeiterbundes (SAB) und der Proletarischen Aktion (PA), wie aus der Mitgliederliste herauszulesen ist.8 Die beiden trotzkistischen Organisationen gaben in den Jahren 1952 bis 1969 gemeinsam auch die Zeitung Das Arbeiterwort heraus. Zu den bekannteren Exponenten des SAB und der PA gehörten Heinrich Buchbinder und Jost von Steiger, die auch als Redaktoren und Herausgeber des Arbeiterwortes fungierten.9 Beide waren 1958 zusammen mit acht weiteren, ausschliesslich männlichen Mitgliedern und Sympathisanten des SAB Gründungsmitglieder der Genossenschaft Veritas-Verlag.10 Bei diesen Protagonisten handelte es sich sozusagen um Vertreter der »Alten Linken«, welche ihre politischen Wurzeln noch in den Vorkriegsjahren hatte.

Diese Generation der Schweizer Trotzkist*innen schwächelte allerdings Anfang der 1960er Jahre. Obwohl das Arbeiterwort noch bis 1969 erschien, verschwand der SAB Anfang der 1960er Jahre in der Inaktivität11 und die PA löste sich 1962 offiziell auf.12 Ein Schreiben vom August 1965 von Ulrich Gujer, der als Revisor des Veritas-Verlags offensichtlich schon lange auf die Unterlagen für den Kontrollbericht wartete, verdeutlicht die Stimmung zu dieser Zeit: »[...] Natürlich sind wir in der Ferienzeit, aber diese ›Schlamperei‹ behagt mir gar nicht und wird den Rücktritt als Revisor zur Folge haben. Über den ›SAB‹ will ich für diesmal schweigen; kann ja doch nicht mehr als die Kritik wiederholen – die nichts fruchtet.«13 Mit diesen zeitgenössischen Klagen stimmt auch die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Frank Nitzsche überein: »Ähnlich wie in Deutschland und in Österreich [...] warteten [sic] nun auch in der Schweiz bis Ende der sechziger Jahre eine kleine Gruppe altgedienter Trotzkisten auf den Wiederaufschwung der Weltrevolution.«14 Trotz der geringen Aktivität des SAB und der Auflösung der PA blieb die Schreibtätigkeit der Trotzkist*innen erhalten. Es ist bezeichnend, dass sich das Arbeiterwort als die grosse Konstante der trotzkistischen Organisierung vor 1968 erwies.

Gleichzeitig existierten neben diesen sich im Abwärtstrend befindlichen Organisationen aber bereits in den frühen 1960er Jahren eine Gruppe junger Aktivist*innen, vor allem aus dem Umfeld der Bewegung gegen die atomare Aufrüstung, die einen intensiven Austausch mit den älteren Trotzkist*innen pflegte. Der Wiederaufschwung des Schweizer Trotzkismus erfolgte denn auch im Zuge der 1968er-Bewegung und des Aufkommens der Neuen Linken.15 Seine Anfänge hatte er in der Westschweiz: 1969 spalteten sich einige Mitglieder der kommunistischen Waadtländer Parti Ouvrier Populaire (POP) ab und gründeten die Ligue Marxiste Révolutionaire (LMR). Innerhalb der LMR wandten sich die Mitglieder trotzkistischen Ideen zu und standen in engem Kontakt mit der IV. Internationale. Ab 1971 wurden auch in der Deutschschweiz Ableger gegründet – unter dem Namen Revolutionäre Marxistische Liga (RML). Ab 1980 nannte sich die Organisation dann Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Die RML hatte noch einige Mitglieder des früheren SAB gewinnen können, setzte sich aber grösstenteils aus Exponent*innen der jüngeren Generation rund um die 1968er-Bewegung zusammen. Sie war mit bis zu achthundert Mitgliedern die grösste trotzkistische Partei, die es in der Schweiz je gab, und nahm sogar Einsitz in einigen kommunalen und kantonalen Parlamenten.16

Abb. 2: Walter Kern rollte in Was kümmert uns der Hut? die Geschichte der Militärprozesse gegen politische Aktivisten im Zweiten Weltkrieg wieder auf. Das Buch Eternit: Asbest und Profit war eine der erfolgreichsten Veröffentlichungen des Veritas-Verlags. Beide Bücher erschienen 1983.

Gemäss Urech entfernte sich die RML/SAP ab circa 1980 allmählich vom Trotzkismus. Ab Mitte der 1980er Jahre zeigten sich dann erste Auflösungserscheinungen; 1987 tagte der letzte Parteikongress und 1991 wurden die noch verbliebenen nationalen Strukturen aufgegeben.17 Nur das Publikationsorgan der RML/SAP, die Bresche, erschien weiter bis 1994, wurde dann aber durch das Monatsmagazin für neue Politik (MOMA), ein rot-grünes Forum-Magazin, abgelöst. Viele der ehemaligen RML/SAP-Mitglieder wechselten zu dieser Zeit zu grün-alternativen Organisationen.18 Ab 1987 stellte der Verlag seine publizistischen Aktivitäten ein.

In seinen Anfängen also war der Veritas-Verlag der Verlag des SAB und der PA, ab 1971 übernahm dann die neu gegründete Zürcher Sektion der RML die Leitung.19 Das Verlagslokal befand sich an der Mattengasse 37 im Zürcher Kreis 4, wo sich in den 1970er Jahren auch die Räumlichkeiten der RML befanden. Ursula Urech erklärt im Interview, dass der Verlag bis zur Einstellung der aktiven Tätigkeit 1987 in Personalunion mit der RML/SAP arbeitete. Der Verlag sei während dieser Zeit von Berchtold Schwitter geleitet worden, offiziell Verantwortlicher für das Rechnungswesen und Mitglied der Verwaltung. Sie selber habe stets eng mit ihm zusammengearbeitet und fungierte als eine Art Verbindungsfrau zwischen Verlag und Organisation: »Wenn er etwas von der Stadtleitung, der Sektionsleitung oder der nationalen Leitung wollte, kam er immer zu mir. So bestand der Verlag eigentlich nur aus zwei Personen: Berchtold Schwitter und mir.«20 Auch nach dem Ende der SAP führten Schwitter und Urech den Verlag weiter. Erst 1999 gab Schwitter in einem Brief offiziell den Rücktritt von seiner Arbeit beim Veritas-Verlag bekannt. Grund für seinen Rücktritt waren nicht nur der massive Rückgang von Bücherbestellungen und die Konkurrenz durch das Internet. Der Entscheid war durchaus politisch, denn laut seinem Rücktrittsschreiben war er der Meinung, dass »[...] durch Auflösung der SAP und ihrer Jugendorganisation RSJ, kombiniert mit der Ablösung der ›Bresche‹ durch ›MOMA‹ [...] der Verlag seines Zwecks beraubt [...]« worden sei.21 Dieser Vorgang sei, genau wie die Verwendung von Verlags-Geldern für die Redaktion des MOMA, erst mit der Zeit ersichtlich geworden.

Urech zufolge wurde 2001/2002 zwar versucht, mit der neu aufgebauten Antikapitalistischen Linken (AKL) und der Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) dem Verlag nochmals neues Leben einzuhauchen. Diese beiden Organisationen können als indirekte Nachfolgerinnen der RML/SAP bezeichnet werden. Doch bereits nach wenigen Jahren kam es zum Streit und so liegt der Verlag bis heute brach. Der Überblick zeigt also, dass die Geschichte des Veritas-Verlags untrennbar verknüpft ist mit der Geschichte der trotzkistischen Organisierung in der Schweiz, und dies über 1968 hinaus. Zudem ist die publizistische Tätigkeit des Verlags eng mit den Ansprüchen und Zielen der jeweiligen Organisation verbunden.

Publizistische Tätigkeit

Bis zur Einstellung der publizistischen Tätigkeit 1987 gab der Veritas-Verlag insgesamt 31 Bücher und Broschüren heraus. Die erste Publikation war 1958 eine deutsche Übersetzung von Leo Trotzkis Werk Verratene Revolution.22 Die zweitausend Exemplare dieses ersten Werks übernahm der Veritas-Verlag bei seiner Gründung von Walter Kern.23 Die Bücher, die bereits mit dem Label »Veritas-Verlag« versehen waren, wurden damit in den Besitz des nun auch rechtlich existierenden Verlags überführt. Im Nachlass von Buchbinder finden sich zu dieser ersten Publikation einige Unterlagen, wie zum Beispiel das Geleitwort der Herausgeber, der Text für den hinteren Buchumschlag sowie ein kurzer Brief von Trotzkis Witwe, Natalja Sedowa, die den Druck autorisierte.24 Doch nach dieser ersten Publikation erschienen vierzehn Jahre lang keine weiteren mehr. Es ist zu vermuten, dass sich dies auf die Inaktivität der trotzkistischen Organisationen in der Schweiz zu dieser Zeit zurückführen lässt.

Abb. 3: Das zweite Buch, das im Veritas-Verlag erschienen ist: Pierre Franks Die Geschichte der IV. Internationale. Es fehlt die Jahresangabe, das Buch dürfte aber Anfang der 1970er Jahre veröffentlicht worden sein.

Nach politischen Erfolgen mit den Themen Mindestlöhne und Atomwaffenverbot in den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre hatten die Schweizer Trotzkist*innen im Verlauf des folgenden Jahrzehnts nämlich mit zunehmendem Mitgliederschwund und politischer Erfolglosigkeit zu kämpfen. Dies, gepaart mit internen Differenzen, dürfte der Grund gewesen sein, warum in dieser Zeit beim Veritas-Verlag keine Bücher oder Broschüren für Kampagnen zu aktuellen Themen der Schweizer oder der Weltpolitik veröffentlicht wurden. Unter der Führung des SAB und der PAS wurde der Verlag offensichtlich gar nicht richtig aktiv.

Erst ab 1971, unter der Führung der RML, begann die Hochphase der Verlagstätigkeit. In den folgenden Jahren wurden dreissig Bücher und Broschüren zu Aktualitäten im In- und Ausland veröffentlicht – alleine zwölf davon in den Jahren 1974 und 1975. Mit dem Buch Lenin und das Problem des proletarischen Klassenbewusstseins: Die Strategie der Übergangsforderungen von Ernest Mandel erschien lediglich noch ein zusätzliches Werk, das eine allgemein historisch-theoretische Ausrichtung aufwies.25 Ansonsten begleiteten die restlichen Publikationen allesamt Kampagnen der RML. Sie behandelten dementsprechend zentrale Themen der in den 1970er Jahren prägenden Neuen Linken.

International waren die Themenbereiche nach Ländern aufgeteilt: Sowjetunion, Spanien, Chile, Indochina, Nicaragua. Die Bücher und Broschüren zur Lage in diesen Ländern, welche einen Bericht aus sozialistischer Sicht darstellten, konzentrieren sich fast ausschliesslich auf die Jahre 1973 bis 1975. Danach erhielten gegenwärtige Themen und Kampagnen in der Schweiz Priorität. Nitzsche liefert dafür eine Erklärung: »Nachdem sich die RML, ähnlich wie die deutschen und österreichischen Schwesterorganisationen, auf die Arbeit innerhalb der Studierendenschaft, der antiautoritären Jugendbewegung und Solidaritätskampagnen für Bewegungen in der Dritten Welt engagiert hatte, verlagerte sie nun ihre Schwerpunkte auf Fragen der Schweizerischen Politik [...].«26

Abb. 4: Trotzkis Witwe, Natalja Iwanowna Sedowa, erteilte die Erlaubnis zum Druck der deutschsprachigen Ausgabe des Buchs Verratene Revolution.

Die politische Umorientierung – der die Umbenennung von RML in SAP folgte – veränderte den Themenkreis der Publikationen merklich. Zur aktuellen Schweizer Politik erschienen Titel über Jura-Frage, Armee, Frauenbewegung, Wirtschaftskrise, Arbeiterbewegung, Umweltzerstörung, Berufsausbildung, Mutterschaftsinitiative oder die allgemeine politische Lage der Schweiz und des Schweizer Kapitalismus. Besonders erfolgreich waren, wie Ursula Urech erzählt, 1983 die Publikationen Eternit: Asbest und Profit: ein Konzern verseucht die Umwelt der Kommission Ökologie und Gesundheit der SAP Zürich27 sowie Was kümmert uns der Hut? Ein Frontbericht aus der Schweiz im zweiten Weltkrieg mit Bezügen zur Gegenwart28 von Walter Kern. Obwohl der Verlag offiziell noch heute besteht, sind seit der Publikation Frauwärts! Zur Verwirklichung der Gleichberechtigung 1987 keine Werke mehr erschienen.29 Bis etwa 1999 befasste man sich nur noch mit dem Handel sozialistischer Literatur. Auch die Produktion kleiner Schriften für das Verteilen auf der Strasse oder zur Schulung der Mitglieder, die in grosser Zahl herausgegeben worden waren, wurde mit der Auflösung der SAP eingestellt.30

Der Veritas-Verlag repräsentierte die zentrale Tätigkeit trotzkistischer Aktivist*innen: Das Schreiben. Und wenn sie nicht selber schrieben, veröffentlichten sie Texte von Trotzki selbst oder wandten sich Schrifterzeugnissen von befreundeten Organisationen aus anderen Ländern zu. Doch das Geschriebene nahm im trotzkistischen Aktivismus stets eine sehr wichtige Rolle ein. Und dass, wie Urech sich erinnert, in den 1970er und den frühen 1980er Jahren grosser Enthusiasmus und Begeisterung innerhalb der trotzkistischen Bewegung in der Schweiz herrschten, förderte sicherlich die bemerkenswerte Publikationstätigkeit. Doch das Schreiben und Verbreiten von Texten war kein Selbstzweck; es erfüllte konkrete Funktionen innerhalb der trotzkistischen Organisationen.

Abb. 5: Die RML/SAP veröffentlichte verschiedene Broschüren zu schweizspezifischen Themen.

Da die RML/SAP Teil der IV. Internationale war, wurden deren Publikationen auch in der Schweiz verbreitet. Das Vereinigte Sekretariat der IV. Internationale gab ab den 1970er Jahren insgesamt drei eigene Periodika heraus: die theoretische Zeitschrift Quatrième Internationale, die Internationale Pressekorrespondenz (Inprekorr) und das Interne Bulletin.31

Diese Publikationen hatten unterschiedliche Aufgaben, wie der Publizist Günter Bartsch in seiner zeitgenössischen Darstellung der trotzkistischen Strömungen zeigt. Die Zeitschrift Quatrième Internationale vermittelte »Beschlüsse der Weltkongresse sowie Beiträge führender Funktionäre von prinzipieller und allgemeiner Bedeutung, darunter neue Thesen [...].« Die Inprekorr enthielt »Resolutionen und Analysen der nationalen Sektionen, Auszüge aus deren Zeitschriften, Artikel wichtiger Funktionäre zu aktuellen Fragen und Nachrichten aus der Arbeiterbewegung.« Das Interne Bulletin wiederum stand nur den Mitgliedern und Funktionär*innen der IV. Internationale zur Verfügung. Es konnte von Aussenstehenden nicht abonniert werden, sondern sollte das Innenleben regulieren. Das Interne Bulletin erschien meistens vor den Weltkongressen. »Jede Tendenz oder von der Generallinie abweichende politische Position soll[te] in diesen Perioden wenigstens einmal dargestellt werden, damit sich alle Mitglieder rechtzeitig eine Meinung […]« bilden konnten.32

Die Funktionen des Verlags

Die skizzierten Aufgaben, welche die Vermittlung der politischen Inhalte von den Organisationen sowohl nach aussen als auch nach innen umfassten, lassen sich auch innerhalb der Verlagstätigkeit des Veritas-Verlags finden. Einerseits sollte er als Herausgeber von linken Büchern und Broschüren fungieren, weil sich aufgrund des politischen Klimas während des Kalten Kriegs in der Schweiz dafür keine externen Verlage mehr finden liessen. Vor allem die RML/SAP nutzte die Gelegenheit, Publikationen zu ihnen zugewandten Themen in Eigenregie zu realisieren und zu vertreiben. Entscheidend für die Umsetzung war, dass die RML in Lausanne eine eigene kleine Druckerei besass. In dieser wurden neben der Bresche sämtliche Publikationen des Veritas-Verlags gedruckt. Die Bücher und Broschüren wurden nach der Vorbereitung in Zürich nach Lausanne geschickt. »Eine ›bürgerliche‹ Druckerei in Zürich oder Umgebung, die unsere Schriften drucken würde, hätte sich nie und nimmer gefunden«, ergänzt Urech.33 Der Verlag war damit die zentrale Schnittstelle, in der die theoretischen Auseinandersetzungen, das Schreiben der Texte sowie deren Gestaltung und die eigentliche Produktion der Schrifterzeugnisse zusammenkamen.

Neben den Schriften, welche hauptsächlich Kampagnen der Organisation stützen sollten, war die zweite Hauptfunktion internen Charakters: nämlich die Produktion von Materialien für die Schulung der Mitglieder. Neben den Büchern und Broschüren produzierte der Veritas-Verlag auch eine Grosszahl an Pamphleten, Dokumenten, Flugblättern und sonstigen Schriften. Diese wurden zwar auch an Veranstaltungen, Aktionen, Demonstrationen und vor Fabriken verteilt.

Trotzdem waren sie gemäss Urech hauptsächlich intern für die Mitglieder der Organisation gedacht. Die kleinen Schriften wurden an die Mitglieder verteilt, woraufhin sie gelesen werden mussten. Der Inhalt wurde dann an den Versammlungen besprochen. Dies diente der Schulung der Mitglieder: »Egal, zu welchem Thema man eine Kampagne durchgeführt hat, man musste die Mitglieder irgendwie in kompakter Form informieren, um was es überhaupt geht, damit sie auf der Strasse, wenn sie mit den Leuten sprachen, argumentieren konnten«, so Urech.

Abb. 6: Feminismus und frauenspezifische Themen machten ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einen Schwerpunkt der Publikationstätigkeit aus.

Diese internen Informationswege sollten ein demokratisches Funktionieren der Organisation gewährleisten. So sind denn auch die Publikationen, die beim Veritas-Verlag erschienen, stets intensiv in den Organisationen besprochen und diskutiert worden. Die Logik dieses Ablaufs sei gewesen, dass jene Mitglieder, die schreiben konnten, geschrieben haben, solche die reden konnten, geredet haben und die andern hätten zugehört. Mit der Zeit waren diese dann geschult, konnten auch mitreden und fingen selbst an zu schreiben. Urech betont die Allgegenwärtigkeit und Zentralität der Schreibtätigkeit.34 Das Schreiben erfüllte sowohl nach aussen als auch nach innen eine entscheidende Funktion und wurde den Mitgliedern richtiggehend beigebracht.

Dieser Zweck vieler Publikationen zur internen Schulung erklärt auch, warum der Grossteil der gedruckten Exemplare direkt an die einzelnen Parteisektionen verkauft wurde, von wo aus sie wiederum den Mitgliedern weiterverkauft wurden. Angeboten wurden die Werke im eigenen Laden im Verlagslokal beziehungsweise dem RML-Büro in Zürich oder an Ständen an den verschiedenen Kongressen und Veranstaltungen der RML/SAP in der Schweiz. Interessierte ausserhalb der Organisation konnten die Publikationen zwar an Ständen, Demonstrationen und anderen politischen Veranstaltungen wie dem 1. Mai erwerben oder per Post bestellen. Die Bücher und Broschüren gelangten aber zum grössten Teil an bereits offizielle Mitglieder, für die der Kauf und die Lektüre der Bücher und Broschüren mehr oder weniger Pflicht war. Ein Grossteil des vom Verlag eingenommenen Geldes stammte somit von den eigenen Mitgliedern und floss in die Organisation ein.35

Das Schreiben und der Umgang mit Schrifterzeugnissen waren also zentrale Tätigkeiten im Rahmen des politischen Aktivismus in der RML/SAP. Die verschiedenen internen und externen Funktionen des Schreibens, die möglicherweise auch eine Kompensation für konkrete politische Erfolge darstellten, kulminierten im Veritas-Verlag. Dies war sicherlich einem spezifischen Umgang mit Theorie gerade in den Jahren nach 1968 geschuldet, in denen das Schriftliche neue Priorität erhielt und vielfach bereits ältere Theoriewerke neu entdeckt, neu verlegt und neu gelesen wurden. In dieser Zeit haben sich nämlich viele linke Verlage entwickelt, welche die neu entstandenen politischen (Sub-)Kulturen und politischen Organisationen erheblich mitgeprägt haben. Der Veritas-Verlag ist also nicht unbedingt ein Spezialfall, sondern seine Hochblüte setzte in einer Zeit ein, in der linke Bücher, linke Theorien und linke Verlage im deutschsprachigen Raum eine Hochkonjunktur durchliefen.36

Abb. 7: Im Themenbereich Internationalismus standen antikoloniale und antiimperialistische Befreiungskämpfe im Zentrum der Veröffentlichungspraxis.

Fazit

Die Geschichte des Veritas-Verlags ist grundsätzlich ein Spiegelbild der Geschichte des SAB/der PA, der RML/SAP, ja der gesamten trotzkistischen Bewegung in der Schweiz seit dem Ende der 1950er Jahre – mit allen Höhen und Tiefen. Dies erklärt sich daraus, dass der Veritas-Verlag durchgehend die hauseigene Publikationsplattform der genannten Organisationen war. Dass der Verlag aber so lange existierte, mag im Nachhinein erstaunen. Kurz nach seiner Gründung fiel er in einen Schlummerzustand, aus dem er erst wieder in der turbulenten Zeit nach 1968 gerissen wurde. Unter der RML, einer für die Schweiz verhältnismässig grossen trotzkistischen Organisation, entwickelte sich rund um den Veritas-Verlag eine rege Publikationstätigkeit. Getrieben vom Enthusiasmus einer jungen Generation von Aktivist*innen, fand die Arbeit des Verlags in einer theorieversessenen Umgebung einen fruchtbaren Boden.

Der Verlag nahm dabei für die Organisation eine zentrale Funktion ein. Nur über ihn – in Kombination mit der RML-eigenen Druckerei in Lausanne – war es überhaupt möglich, in Zeiten des Kalten Krieges und eines durch die Gesellschaft hindurch gehenden Antikommunismus trotzkistische Schriften zu publizieren. Dieses Publizieren war insbesondere deshalb wichtig, weil davon das interne Funktionieren der Organisation abhing. Demokratische Prozesse waren innerhalb der zentralistisch geführten RML eng an Schriftlichkeit geknüpft. Der Verlag übernahm die Reproduktion und Verbreitung von zentralen Texten, um das demokratische Funktionieren der Organisation zu gewährleisten.

Zugleich muss aber festgehalten werden, dass der Verlag zu keinem Zeitpunkt eine breitere Zielgruppe ansprach. Er fristete ein Nischendasein; sein Publikum waren die Mitglieder der RML und ihr näheres Umfeld. Die weitreichenden Veränderungen in der Organisationslandschaft der radikalen Linken während den 1980er und dann insbesondere den 1990er Jahren – das Aufkommen von grün-alternativen Organisationen und Parteien sowie dem Verschwinden organisierter Strukturen wie der RML/SAP – führten schliesslich zur Einstellung jeglicher Verlagsaktivität und den Verlag nach 1987 zurück in den Schlummerzustand.

Remo Cadalbert studiert Geschichte und Populäre Kulturen im Master an der Universität Zürich.

Demokratische Prozesse waren innerhalb der zentralistisch geführten RML eng an Schriftlichkeit geknüpft.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Leo Trotzki: Verratene Revolution, übersetzt von Walter Stehen, Zürich: Veritas (o.J., vermutlich 1958).

Abb. 2: Links: Walter Kern: Was kümmert uns der Hut? Ein »Frontbericht« aus der Schweiz im zweiten Weltkrieg mit Bezügen zur Gegenwart, Zürich: Veritas (1983). Rechts: SAP/Robert Lochhead (Hg.): Eternit: Asbest und Profit. Ein Konzern verseucht die Umwelt, Zürich: Veritas (1983).

Abb. 3: Pierre Frank: Die Geschichte der IV. Internationale, Zürich: Veritas (o.J.).

Abb. 4: Natalja Iwanowna Sedowa: Druckerlaubnis für Verratene Revolution, 1957, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ), Nachlass Heinrich Buchbinder (NL Buchbinder), 74(V).

Abb. 5: Links: RML: Dokumente zum Schulungskurs über Schweizer Kapitalismus, Zürich: Veritas (o.J., vermutlich 1980). Rechts: RML: »Jura-Frage« und Klassenkampf, Zürich: Veritas (1974).

Abb. 6: Links: RML: Frauen: von der Unterdrückung zur Befreiung, Zürich: Veritas (1975). Rechts: SAP: frauwärts!: zur Verwirklichung der Gleichberechtigung, Zürich: Veritas (1987).

Abb. 7: Links: RML: Iran: Stützpunkt des Imperialismus, Zürich: Veritas (1972). Rechts: RML: Die indochinesische Revolution: ihre Geschichte: der Weg zum Sieg: die sozialistische Lösung, Zürich: Veritas (1975).

Literatur
  1. 1

    Vgl. David Vogelsanger: Trotzkismus in der Schweiz: Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung bis zum Zweiten Weltkrieg, Zürich: Hochschulschrift (1986), S. 229–231.

  2. 2

    Eine ausführliche Bibliographie trotzkistischer Periodika weltweit (inkl. Schweiz) von 1927 bis 1991 findet sich bei: Wolfgang Lubitz, Petra Lubitz: Trotskyist Serials Bibliography 1927–1991, München: Saur (1991).

  3. 3

    Schweizerisches Sozialarchiv (SozArch), Genossenschaft Veritas-Verlag 1958–1999, Ar. 201.262.

  4. 4

    SozArch, Jost von Steiger (1917–2007), Ar. 155.

  5. 5

    Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ), Nachlass Heinrich Buchbinder (NL Buchbinder).

  6. 6

    Unveröffentlichtes Interview mit Ursula Urech, geführt am 19.04.2017 im Schweizerischen Sozialarchiv durch den Autoren.

  7. 7
  8. 8

    SozArch, Genossenschaft Veritas-Verlag 1958–1999, Ar. 201.262.

  9. 9

    Vgl. SozArch, Findmittel zum Bestand SAB/SAK, http://findmittel.ch/archive/archNeu/Ar454.html (27.07.2011).

  10. 10

    SozArch, Genossenschaft Veritas-Verlag 1958–1999, Ar. 201.262.

  11. 11

    Vgl. David Vogelsanger: Trotzkismus in der Schweiz: Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung bis zum Zweiten Weltkrieg, Zürich: Hochschulschrift (1986), S. 215f.

  12. 12

    Vgl. Sozarch, Findmittel zur MAS/PAS, http://findmittel.ch/archive/archNeu/Ar453.html.

  13. 13

    Brief von Ulrich Gujer, 1965, SozArch, Nachlass Jost von Steiger (NL von Steiger), Ar. 155.11.1.

  14. 14

    Frank Nitzsche: Aus dem Schatten in die Reichweite der Kameras: Die Entwicklung trotzkistischer Organisationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der neuen Sozialen Bewegungen von 1968 bis heute, Siegen: Hochschulschrift (2006), S. 122.

  15. 15

    Vgl. ebd., S. 180–242.

  16. 16

    Vgl. ebd., S. 129.

  17. 17

    Vgl. SozArch, Findmittel zur RML/SAP, http://findmittel.ch/archive/archNeu/Ar79.html (16.03.2007).

  18. 18

    Vgl. Sozarch, Findmittel zum Magazin MOMA, http://findmittel.ch/archive/archNeu/Ar201_260.html (22.03.2013).

  19. 19

    Vgl. David Vogelsanger: Trotzkismus in der Schweiz: Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung bis zum Zweiten Weltkrieg, Zürich: Hochschulschrift (1986), S. 216.

  20. 20

    Unveröffentlichtes Interview mit Ursula Urech, geführt am 19.04.2017 im Schweizerischen Sozialarchiv durch den Autoren.

  21. 21

    Berchtold Schwitter, Rücktrittsschreiben, SozArch, Genossenschaft Veritas-Verlag, Ar. 201.262.

  22. 22

    Leo Trotzki: Verratene Revolution, Zürich: Veritas (1958).

  23. 23

    Vgl. SozArch, Findmittel zur Genossenschaft Veritas-Verlag, http://www.findmittel.ch/archive/archNeu/Ar201_262.html (26.09.2016).

  24. 24

    Veritas-Verlag, Zürich 1957–1959, AfZ, Zürich, NL Buchbinder 2.4.1., 74(V).

  25. 25

    Ernest Mandel: Lenin und das Problem des proletarischen Klassenbewusstseins: Die Strategie der Übergangsforderungen, Zürich: Veritas (1972).

  26. 26

    Frank Nitzsche: Aus dem Schatten in die Reichweite der Kameras: Die Entwicklung trotzkistischer Organisationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses der neuen Sozialen Bewegungen von 1968 bis heute, Siegen: Hochschulschrift (2006), S. 128.

  27. 27

    Robert Lochhead/SAP: Eternit: Asbest und Profit: Ein Konzern verseucht die Umwelt, Zürich: Veritas (1983).

  28. 28

    Walter Kern: Was kümmert uns der Hut? Ein »Frontbericht« aus der Schweiz im zweiten Weltkrieg mit Bezügen zur Gegenwart, Zürich: Veritas (1983).

  29. 29

    SAP: frauwärts!: Zur Verwirklichung der Gleichberechtigung, Zürich: Veritas (1987).

  30. 30

    Unveröffentlichtes Interview mit Ursula Urech, geführt am 19.04.2017 im Schweizerischen Sozialarchiv durch den Autoren.

  31. 31

    Vgl. Günter Bartsch: Trotzkismus als eigentlicher Sowjetkommunismus? Die IV. Internationale und ihre Konkurrenzverbände, Berlin: J. H. W. Dietz (1977), S. 90.

  32. 32

    Ebd., S. 90.

  33. 33

    Unveröffentlichtes Interview mit Ursula Urech, geführt am 19.04.2017 im Schweizerischen Sozialarchiv durch den Autoren.

  34. 34

    Ebd.

  35. 35

    Ebd.

  36. 36

    Vgl. Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf: Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren, Göttingen: Wallstein Verlag (2016).