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Archive des Aktivismus: Schweizer Trotzkist*innen im Kalten Krieg
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Lucas Federer

Aktiv fichiert

Wer in der Schweiz mit Archiven des Aktivismus arbeitet, stösst unweigerlich auf Staatsschutzakten, die sogenannten »Fichen«. Die staatliche Überwachung hat einen immensen Bestand an Dokumenten produziert. Sie sind für die Erforschung sozialer und politischer Bewegungen zentral. Allerdings müssen ihre Entstehungsbedingungen reflektiert werden.

Im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ) liegt der Nachlass des 1999 verstorbenen Heinrich Buchbinder. Buchbinder verkehrte ab den frühen 1950er Jahren in linkssozialistischen Kreisen und war ab 1958 eine der zentralen Figuren des Protests gegen die atomare Aufrüstung in der Schweiz. Zugleich war er während Jahrzehnten prägendes und leitendes Mitglied Schweizer trotzkistischer Organisationen und gehörte zu den führenden Kreisen der IV. Internationale. Um 1968 zog sich Buchbinder aus diesen aktivistischen, ausserparlamentarischen Kreisen grösstenteils zurück und wurde angesehener Sicherheitsexperte der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP), für die er mehrere Jahre im Kantonsparlament des Kantons Aargau sass. Beruflich verstand sich Buchbinder als Publizist und machte sich über politische Kreise hinaus einen Namen als Lobbyist der Schweizer Chiropraktiker*innen.

Buchbinders Nachlass umfasst insgesamt 39 Laufmeter an Akten und reicht teilweise bis in die 1930er Jahre zurück. Der biografische Teil des Archivbestands enthält neben Zeugnissen, Ausweisen und amtlichen Dokumenten auch Heinrich Buchbinders Staatsschutzakten. Dass diese bei der Archivierung des Nachlasses nicht etwa den Dossiers zu seiner politischen oder beruflichen Tätigkeit zugeordnet wurden, erstaunt bei einem Blick in diese Akten wenig: Sie lesen sich nämlich wie ein ungewöhnlich detailliertes »Lebens-Protokoll«. Die Eintragungen fokussieren, ihrem Existenzzweck geschuldet, zwar auf politische Kontakte und Aktivitäten, sie halten aber auch die zentralen lebensgeschichtlichen Ereignisse fest und dokumentieren Reisen, Erwerbsarbeit und ähnliches. Auf hundertdreissig Seiten ist über einen Zeitraum von 47 Jahren Protokoll geführt worden über die Tätigkeiten eines politisch ausserordentlichen und engagierten Aktivisten.

Das erkämpfte Archiv

1989 wurde bekannt, dass ein beträchtlicher Teil der Schweizer Bevölkerung über Jahrzehnte überwacht und »fichiert« worden war. Die weitreichenden Überwachungstätigkeiten der Bundespolizei im Namen des Staatsschutzes, deren Enthüllung unter dem Schlagwort »Fichenskandal« die Schweiz an den Rand einer Staatskrise brachte, wurden im Rahmen einer parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) publik gemacht.1 Insgesamt wurde die Existenz von 800 000 Fichen-Registraturen auf Bundesebene bekannt, davon geben ungefähr ein Fünftel über politische Tätigkeiten der fichierten Personen Auskunft. Der überwiegende Teil der Fichen betrifft ausländische Staatsangehörige, vornehmlich aus der Sowjetunion, die zwischen 1930 und 1990 in die Schweiz eingereist sind.2 Neben den Staatschutz-Fichen des Bundes wurden auch in den einzelnen Kantonen und den grösseren Städten der Schweiz eigenständige Registraturen entdeckt, die jeweils nochmals tausende Fichen enthalten.

Abb. 1: 35 000 Personen demonstrierten am 3. März 1990 anlässlich des Fichen-Skandals.

Der gesellschaftliche Unmut über diese Enthüllungen war nicht zu übersehen. Am 3. März 1990 versammelten sich 35 000 Personen in der Bundesstadt Bern zu einer Demonstration. In deren Rahmen wurden, direkt neben dem zentralen Bundesplatz, die Fenster der für die Bundespolizei verantwortlichen Bundesanwaltschaft eingeworfen, und ein Auto ging in Flammen auf. Auf dem Bundesplatz bespielten einige der wichtigsten Intellektuellen und Kulturschaffenden der Schweiz die Bühne und prangerten die umfassende staatliche Überwachung der Bevölkerung an. Auch wenn die mediale Rezeption im Nachgang der Demonstration vor allem die gewalttätigen Ausschreitungen in den Fokus rückte, blieb nicht verborgen, wie gross die Empörung über das Vorgehen der Bundesanwaltschaft gewesen war. Die in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens als »Fichen-Kartei-Affäre« bezeichnete Enthüllung hatte das Vertrauen der Bevölkerung in den Schweizer Staat erschüttert.3

Als das deutsche Magazin Der Spiegel im Februar 1990 das erste Mal über den »Fichenskandal« in der Schweiz berichtete, wagte es den für viele Schweizer Politiker*innen empörenden Vergleich mit der polizeilichen Überwachung in der DDR. Ein Staat, der Hunderttausende seiner Bürger*innen bespitzelt, das erinnerte aber auch in der Schweiz Viele an die Praktiken des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi), die in der DDR während eines ähnlichen Zeitraums angewandt wurden. Transparente mit Aufschriften, die Stasi-Vergleiche machten, waren bei Demonstrationen rund um den Fichenskandal relativ häufig zu sehen.4

Den Parallelen zu Ostdeutschland wie auch zu anderen Ländern, in denen im Zuge des Kalten Krieges der Staatsschutz weitreichende Kompetenzen erhielt, wurden in den Folgejahren jedoch weder in der Öffentlichkeit noch in der historischen Forschung grössere Aufmerksamkeit geschenkt. Zu sehr schien sich die jeweilige staatliche Überwachung zu unterscheiden, zu verschieden präsentierte sich der politische Kontext. Eine transnationale Perspektive auf die Staatsschutzaktivitäten bleibt damit bis heute ein Desiderat der Forschung.

Auch wenn der Terminus »Fiche« den politischen Skandal in der Schweiz um die so genannte »Fichierung« Hunderttausender entscheidend prägte, war die Fiche selbst nur ein Teil des Verwaltungsapparates der Bundesanwaltschaft. Die eigentlichen Fichen waren in erster Linie ein personen- oder organisationsbezogenes Verweis- und Zuordnungssystem. Im A5-Querformat gehalten, weisen sie jeweils ein Datum und eine Kurzbeschreibung des aktenkundig gewordenen Sachverhalts aus und verweisen gleichzeitig auf Akten. Diese Akten wiederum sind zentrale Dossiers zu einzelnen Ereignissen, Personen oder Organisationen. Während die Fichen selbst in den allermeisten Fällen auf wenige Seiten beschränkt sind und nur wenige Eintragungen beinhalten, sind in den Dossiers die Ereignisse, aber auch Lebensläufe von Personen oder Organisationen ausführlich dokumentiert. Bei aussergewöhnlichen Aktivist*innen wie Heinrich Buchbinder oder dem Zürcher Kommunisten Theo Pinkus konnten die Fichen aber durchaus hundertdreissig Seiten und mehrere hundert Einträge umfassen.5

Die eigentlichen Fichen waren in erster Linie ein auf Personen und Organisationen bezogenes Verweis- und Zuordnungssystem.

Bereits kurz nach dem Bekanntwerden des Fichenskandals forderten viele der betroffenen Personen Einsicht in die Akten. Die Forderung der Einsicht in die eigene Akte wurde zum zentralen Bestandteil der politischen Aufarbeitung der Fichenaffäre. Obwohl die entscheidenden Stellen die Einsicht anfangs um jeden Preis verhindern wollten, wurde sie aufgrund des Druckes aus der Bevölkerung nach langen Auseinandersetzungen 1990 beschlossen und rechtlich abgesichert. Insgesamt gingen in der Zeit nach dem Bekanntwerden der Fichen ungefähr 320 000 Anfragen zur Einsicht ein. Die Einsicht selbst war ein komplizierter Prozess, der oftmals eine mehrfache Bestätigung des Einsichtswillens benötigte und in der Zusendung von teilweise stark geschwärzten Kopien resultierte.6

Ursprünglich sah der Bundesrat vor, dass die Fichen und Dossiers, die für die Belange des Staatsschutzes nicht mehr zweckdienlich waren, nach Ablauf der Frist für die Einsichtsgesuche vernichtet werden sollten. Es entspann sich daraus jedoch abermals eine intensive öffentliche Debatte über den Umgang mit den Staatsschutzakten, die am 11. Juni 1992 im Bundesbeschluss über die Einsicht in Akten der Bundesanwaltschaft mündete, der die Archivierung sämtlicher Bestände festlegte. Dieser Beschluss wurde gegen den ursprünglichen Willen des Bundesrates gefasst und öffentlich mit dem Interesse der betroffenen Personen und teilweise auch mit der Notwendigkeit einer historischen Aufarbeitung des staatlichen Wirkens begründet.

Allerdings wurde eine Sperrfrist von fünfzig Jahren auf die Bestände festgelegt, was mitunter ein Grund dafür ist, dass die historische Forschung zu den Umtrieben des Schweizer Staatsschutzes im Allgemeinen und zu den Fichen im Speziellen in vielen Belangen noch erstaunliche Lücken aufweist.7

Abb. 2: Stark geschwärzte Seiten aus der Kopie des Staatsschutzdossiers, die Heinrich Buchbinder ausgehändigt wurde.

Neben dem öffentlichen Druck, der breiten Empörung und der grossen Anzahl an Betroffenen dürften auch tieferliegende Entwicklungen die verhältnismässig rücksichtsvolle Politik in der Aufarbeitung des Fichenskandals erklären. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion entfiel in den 1990er Jahren ein für den Staatsschutz wesentliches Bedrohungsszenario. Es kann davon ausgegangen werden, dass die teilweise Aufarbeitung der rechtlich und politisch fragwürdigen Sammlung und Verwendung personenbezogener Daten ohne diese geopolitische Veränderung kaum in diesem Ausmass erfolgt wäre.8 Oder wie es David Gugerli und Hannes Mangold formulierten: »Erst nachdem die Kartei bedeutungslos geworden war, wurde die ›Fichen-Affäre‹ möglich.«9

Die Archivierung der Fichen-Originale – ein Resultat der politischen Auseinandersetzung – erfolgte durch das Schweizerische Bundesarchiv in Bern. Dort können die Fichen mittels eines schriftlichen Antrages sowie einer Begründung des Einsichtswillens angefordert und, wenn sie innerhalb der fünfzigjährigen Sperrfrist liegen, mittels gesondert zu beantragender Bewilligung eingesehen werden. Die so einsehbaren Fichen sind nicht geschwärzt und bedürfen dadurch einer besonderen Sensibilität bezüglich des Schutzes von Persönlichkeitsrechten.

Neben dem Bundesarchiv bestehen allerdings noch weitere Zugänge zu Personen- und Organisationsfichen. Eine grosse Sammlung von Fichen ist im Umfeld der Zeitschrift Fichen-Fritz entstanden. Der Fichen-Fritz war eine zeitgenössisch engagierte Stimme in der Aufarbeitung des Fichenskandals und ist zwischen 1990 und 1998 33 Mal erschienen. Herausgegeben wurde die Zeitschrift von der Stiftung Archiv Schnüffelstaat Schweiz (ASS). Deren Stiftungsratspräsident war Hansjörg Braunschweig, bis 1990 SP-Nationalrat und in den 1950er Jahren eine führende Persönlichkeit in der Schweizer Bewegung gegen die atomare Aufrüstung. Die Stiftung und ihre Publikation waren treibende Kräfte in der Aufarbeitung der Fichenaffäre und der Archivierung der Staatsschutzakten, indem sie beispielsweise Musterbriefe zu Verfügung stellten und eine eigene Sammlung von Fichen und Akten anlegten. Das ASS wurde 1997 an das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich übergeben. Damit existiert eine Zusammenstellung von fünfhundert Personen und Organisationen, die sich bereit erklärt hatten, Kopien ihrer Fichen und Dossiers öffentlich zugänglich zu machen.

Auch in privaten Nachlässen finden sich immer wieder Kopien von Fichen und Dossiers, die den Personen in den 1990er Jahren auf ihr Gesuch hin zugesendet wurden, so auch in verschiedenen Nachlässen von Schweizer Trotzkist*innen. Diese Kopien unterscheiden sich in der Materialität von den Originalen und sind an verschiedenen Stellen geschwärzt. Allerdings kann durch eine Arbeit mit diesen Kopien die Sperrfrist von fünfzig Jahren umgangen werden.10

Abb. 3: Die Zeitschrift Fichen-Fritz erschien insgesamt 33 Mal und war eine wichtige Kommunikationsplattform der sozialen Bewegung gegen die staatliche Überwachung.

Mit der längerfristigen Erhaltung eines wesentlichen Teils der bei der Überwachung angefallenen Akten wurden die Grundlagen geschaffen, die Tätigkeiten der politischen Polizei in der Schweiz historisch aufzuarbeiten. Bei einer Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur zum Thema wird aber schnell klar, dass dies bislang nur oberflächlich geschah. Es existieren zwar die Ergebnisse der offiziellen Aufarbeitung sowie einige wenige Aufsätze zum Thema. Doch zu den Folgen der Überwachung für die Lebensläufe der Überwachten und auch zu den konkreten Entstehungsbedingungen der Fichen, also den Informationsflüssen, wurde bislang kaum geforscht.11

Solche Überlegungen sind entscheidend, um mithilfe der Fichen-Bestände die politischen und sozialen Bewegungen der Schweiz im Kalten Krieg zu erforschen. Die Fichen wurden nämlich während der Dauer ihrer Nutzung nicht nur mit Einträgen versehen, sondern auch in behördlichen Abläufen konsultiert und die darin enthaltenen Informationen weitergegeben. Sie wirkten dadurch immer wieder zurück auf die Lebensläufe der Überwachten, konnten berufliche und politische Karrieren drastisch beeinflussen. Gleichzeitig zeugen sie von einer intensiven Durchdringung der Lebensrealität der fichierten Personen und verlangen deshalb eine besondere Sensibilität, wenn wir mit ihnen als historische Quellen arbeiten.

Ignoranter Staatsschutz?

Die öffentliche Diskussion zur Fichenaffäre anfangs der 1990er Jahre wurde stark von einigen wenigen intellektuellen Persönlichkeiten geprägt. Insbesondere der Schriftsteller und Architekt Max Frisch tat sich im letzten Jahr seines Lebens als scharfer Kritiker und vielseitig präsenter Kommentator der Praktiken des Staatsschutzes während des Kalten Krieges hervor. Dieser starke Fokus auf einige wenige Überwachte prägt den Blick auf die Staatsschutzakten bis heute. Schon 1990 wurden insbesondere in feministischen Kreisen Stimmen laut, die sich an der Omnipräsenz der männlichen Intellektuellen in der Debatte störten und forderten, den Blick auch auf andere Teile der grossen Masse der Überwachten zu lenken. Diesem Wunsch ist aber weder die öffentliche Debatte der 1990er Jahre noch die bisherige wissenschaftliche Forschung zum Thema nachgekommen.12

2015 erschien posthum das von Frisch nicht mehr vollendete Manuskript Ignoranz als Staatsschutz.13 Die Stossrichtung der Arbeit Frischs, bei der er seine einzelnen Fichen-Einträge ausschnitt, auf ein Blatt Papier klebte und jeweils darunter mit einer Schreibmaschine eigene Kommentare und Überlegungen anbrachte, nimmt zwei entscheidende Punkte der öffentlichen Diskussion zu den Fichen in exemplarischer Weise auf: Einerseits empört sich Frisch über die Grössenordnung der Überwachung, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich die gängigen Vorstellungen überstieg. Andererseits bezeichnet Frisch die Fichen in vielen Punkten als falsch und belanglos – die Staatsschutzaktivitäten sind für ihn dilettantisch und ignorant ausgeführt. Die eigenhändige Korrektur der eigenen Fiche sollte den Beweis für die Schlampigkeit der Überwachung erbringen. Auch die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) stellte zu Beginn der Affäre fest, dass das Ausmass der Ungenauigkeiten und Banalitäten in den Fichen erschreckend sei. Ikonisch geworden ist die Feststellung in der Fiche der damaligen SP-Nationalrätin Menga Danuser: »trinkt abends gern ein Bier«.14 Bis heute ist der Verweis auf Banalität und Belanglosigkeit ein wesentliches Element des öffentlichen Bezugs auf die Fichenaffäre.15

Die Fichen wirkten immer wieder zurück auf die Lebensläufe der Überwachten, konnten berufliche und politische Karrieren drastisch beeinflussen.

Der starke Fokus auf die angebliche Unfähigkeit des Schweizer Staatsschutzes – und damit der Verweis auf das typische Scheitern der kleinen Schweiz, die sich an die grossen Unternehmungen wagt und dann doch ihre eigentlich sympathischen Beschränkungen erleben muss – wird der Bedeutung der Fichen und den Auswirkungen der Überwachungstätigkeit aber nicht gerecht. Frisch hat, trotz Fiche, eine Ausnahmekarriere durchlebt. Trotz oder gerade wegen seiner Auseinandersetzung mit Konstitution und Ausprägung des Staates hat er sich in das nationale Literaturerbe der Schweiz eingeschrieben. Die Überwachung gereichte ihm damit zu keinem Zeitpunkt nachweislich zum Nachteil. Frischs Fiche umfasste dreizehn Seiten. Im Vergleich zu grossen Teilen der Fichen ist das überdurchschnittlich viel. Die meisten politischen Aktivist*innen hatten aber bedeutend längere Register.

Dass die Einträge in den Fichen-Registern nicht einfach nur von Unfähigkeit zeugten, sondern teilweise gravierende Auswirkungen haben konnten, das ahnte wohl auch Frisch, als er 1990 als einer der Ersten seine Fiche erhielt und festhielt:

»Einigen Tausend Landsleuten wird in diesem Herbst, wenn sie ihre Fichen gesehen haben, ein Licht aufgehen: warum du trotz bester Fachzeugnisse nie weitergekommen bist; warum es für eure Familie einfach keine städtische Wohnung gibt seit Jahrzehnten; warum es Alfred Gilgen verhindert hat, dass du Assistent wirst mit so einer Fiche, und warum einer als Lehrer, obschon die Eltern sich für ihn einsetzen, nicht wiedergewählt wird – Repression, die negative Auslese. Resultat: die Schweiz heute.«16

Die Biografien der als »kommunistisch« oder »trotzkistisch« klassifizierten Personen erzählen genau von diesen gravierenden und weitreichenden Konsequenzen der Überwachung. Da ist zum Beispiel ein linkes SP-Mitglied, das mit der Bewegung gegen die atomare Aufrüstung sympathisierte und beim staatlichen Post- und Fernmeldeunternehmen PTT angestellt war. Der junge Mann soll laut Fiche seine Kenntnisse zur Telefon- und Postüberwachung an linke Aktivist*innen weitergeleitet haben. Die Konsequenz dieser Vermutung folgt einige Einträge weiter unten: »6.11.59 an [geschwärzt] PTT: teilen obiges mit, wobei die erwähnten Vorkommnisse die Vertrauenswürdigkeit des W. als sehr fraglich erscheinen lassen«.17 Besagter W. wurde sein Leben lang nicht mehr in die von ihm gewünschte Position befördert. Auf seiner Personalakte soll ein Vermerk angebracht worden sein: »Darf nicht befördert werden.«18 Viele weitere solche Beispiele könnten angeführt werden. Auch in Heinrich Buchbinders Leben sind mehrere einschneidende Erlebnisse bekannt, die auf die umfassenden Staatsschutztätigkeiten zurückzuführen sind. Hier führte beispielsweise der von der Kantonspolizei Zürich registrierte Kontakt Buchbinders zum »algerischen Nationalistenführer« Moulay Merbah 1956 zunächst zu einer Telefonabhörung, später zur Hausdurchsuchung und Verhaftung Buchbinders unter dem Vorwurf des Terrorverdachts. Ein Verdacht, der sich nicht erhärten liess.19

Abb. 4: Das Bundesarchiv in Bern archiviert die Fichen-Originale und die dazugehörigen Staatsschutzdossiers. Im oberen Teil finden sich die persönlichen Angaben, unten sind die verschiedenen Einträge mit Datum und den weiterführenden Akten aufgelistet.

Wie sind denn nun die Fehler, Unstimmigkeiten und seltsamen Gewichtungen, die Max Frisch bei der Durchsicht seiner eigenen Fiche kritisierte und als »Ignoranz« deutete, zu erklären? Ein Grund mag sicherlich sein, dass »Wahrheit« und »Vollständigkeit« im Sinne des Staatsschutzes etwas anderes bedeuteten als für die fichierten Personen. Ein jahrelanger politischer Weggefährte Heinrich Buchbinders kommentierte seine eigene Fiche nach Erhalt in den 1990er Jahren bezüglich eines Ereignisses 25 Jahre zuvor: »Und das soll alles sein? Ich hoffe, bei dir steht mehr, denn dies war doch eine der besten Aktionen überhaupt. Ich verstehe immer besser jene Leute, die Geschichtsbücher selber schreiben.«20 Es gilt sich in Erinnerung zu rufen, dass der Staatsschutz des Bundes nie mit dem Auftrag agierte, eine Geschichte der politischen Bewegungen und Organisationen zu verfassen.

Stattdessen lohnt es sich zu überlegen, wozu die Fichen erstellt wurden. Georg Kreis erwähnt den »multifunktionalen Charakter der Kartei«. So diente diese nicht nur als zentrales Werkzeug des Staatsschutzes, sondern auch als »Geschäftskontrolle der Verwaltung«. In der Kartei wurden nämlich die eingegangenen Informationen vermerkt, aber auch die ausgehende Korrespondenz – also erteilte Auskünfte oder weitergeleitete Informationen – festgehalten. Als Instrument des Staatsschutzes wiederum stellten die Fichen ein Informationssystem dar, das Recherchen zu einzelnen Personen, aber auch zu allgemeineren Entwicklungen des politischen Geschehens in der Schweiz ermöglichen sollte. Gerade für den Versuch, einen Gesamteindruck über die »politische und ideologische Entwicklung des Landes« zu erhalten, wurden längst nicht nur Informationen festgehalten, die direkt die inneren Bereiche der Staatssicherheit tangierten.21 In der aus dieser Konstellation entstehenden Zusammenstellung von Fichen-Einträgen war die grösstmögliche Kohärenz der Informationen oder eine möglichst genaue Wertung und Gewichtung einzelner Ereignisse wahrscheinlich nicht vordergründiges Ziel. Vielmehr deutet der multifunktionale Charakter der Fichen darauf hin, dass darin ganz unterschiedliche Informationen festgehalten wurden, deren Gehalt sich nicht einheitlich nach denselben Kriterien bemessen lässt.

Die teilweise dilettantisch anmutenden Inkonsistenzen der Fichen sind aber noch direkter mit der politischen und polizeilichen Organisation des Staatsschutzes zu erklären. An der Produktion der Fichen und der zugehörigen Dossiers waren neben dem bürokratischen Apparat zwangsläufig verschiedene Polizeidienste und ihnen zugehörige Expert*innen beteiligt. Diese verknüpften die gesammelten Informationen zu allgemeineren Übersichten und versuchten beispielsweise Gefahrenanalysen zu erstellen.22

Der so praktizierte »Staatsschutz« kann dadurch nicht als reiner Verwaltungsakt beschrieben werden. Gleichzeitig unterscheidet er sich von anderen Formen der Wissensproduktion, etwa in der Wissenschaft. Ihm spezifisch ist – so Eva Horn – eine »Epistemologie des Geheimen«. Das produzierte Wissen muss, das ist der Kern der Sache, auf einen kleinen Kreis von Personen beschränkt bleiben und darf keinesfalls bis zu den überwachten Personen vordringen. Dadurch kann die gewonnene Erkenntnis kaum durch konkurrierende Perspektiven in Frage gestellt werden – man weiss einzig, was man zu wissen glaubt. »Nachrichtendienstliches Wissen […] konstituiert ein Wissen über den Feind, das möglicherweise nichts ist als die Imagination dessen, was man für den Feind hält.«23 Um dieses aus Informationen, Gerüchten und Fehlinformationen produzierte Wissen einordnen zu können, und um die »Imagination des Feindes« nachzuvollziehen sowie historisch nutzbar zu machen, müssen die Entstehungsbedingungen der Fichen und Dossiers beleuchtet werden. Das konkrete Wirken der verschiedenen Polizei- und Verwaltungsapparate ist zum Verständnis der Fichen und Staatsschutzdossiers zentral.

Produktionsbedingungen

Die Einträge in den Bundesfichen stammen gemäss Georg Kreis grundsätzlich aus sechs unterschiedlichen Quellen, die an verschiedenen Positionen des föderal organisierten Schweizer Staates angesiedelt waren. Neben den Beobachtungen der Bundespolizei selbst, Mitteilungen von ausländischen Geheimdiensten und den Meldungen der Passkontrolle über Ein- und Ausreisen von fichierten Personen waren drei Erhebungsmethoden in der politischen Überwachung besonders zentral:24

Um dieses aus Informationen, Gerüchten und Fehlinformationen produzierte Wissen einordnen zu können, und um die »Imagination des Feindes« nachzuvollziehen sowie historisch nutzbar zu machen, muss beleuchtet werden, wie die Fichen entstanden sind.

  1. Meldungen der kantonalen Polizei- und Nachrichtendienststellen an den Bund über Aktivitäten und Entwicklungen.
  2. Mitteilungen durch Informant*innen, also Privatpersonen, die aus eigenem Antrieb oder auf Anfrage Informationen zu den betroffenen Personen lieferten.
  3. Telefon- und Briefüberwachung. Diese konnten von verschiedenen Stellen angeordnet werden und durften eigentlich nur auf einen konkreten Verdacht hin erfolgen.

Eine systematische Aufarbeitung der Möglichkeiten und Wege zur Informationsbeschaffung durch Polizei- und Nachrichtendienste ist für die Schweiz bislang noch nicht erfolgt. Bei der Arbeit mit den Fichen und Dossiers von politisch aktiven Personen lassen sich aber immerhin gewisse Strategien erkennen, die zu Einträgen in den Bundesfichen geführt haben. So lässt sich insbesondere feststellen, dass Einträge sehr häufig sind, die auf Meldungen der kantonalen Polizeistellen zurückgehen. Hier ist aber rückblickend kaum mehr nachzuvollziehen, wie die von den kantonalen Behörden weitergeleiteten Informationen gesammelt und nach Relevanz geordnet wurden. Auch die Reichweite polizeilicher Massnahmen wird in den Staatsschutzakten nicht nachgewiesen. In den Dokumenten, die überwachte Telefongespräche belegen, ist beispielsweise nicht nachvollziehbar, ob die Überwachung des Telefonanschlusses sämtliche getätigten Anrufe umfasste, oder ob gezielt bestimmte Gespräche abgehört wurden.

Bereits 1966 wurde bekannt, dass die Telefonüberwachung in der Schweiz eine rege genutzte Informationsquelle für verschiedene Polizei- und Staatsschutzstellen darstellte. Der Spiegel veröffentlichte in einem vielbeachteten Artikel eine Liste mit allen Schweizer Dienststellen, die Telefongespräche abhören durften und zitierte dabei auch den linken Aktivisten Heinrich Buchbinder. Dieser behauptete, schon lange zu wissen, dass seine Telefone abgehört und seine Post abgefangen würde. Laut Der Spiegel hätte Buchbinder dies erfahren, weil ihm per Post eine Mitschrift eines seiner Telefongespräche versehentlich übermittelt worden sei. Verschiedene Schweizer Zeitungen griffen in den folgenden Tagen die Geschichte auf, sodass auch die Bundespolizei intern darauf reagieren musste. In einem vertraulichen Bericht des Nachrichtendienstes des Polizeikommandos Zürich an die Bundespolizei wird der Vorwurf der fälschlichen Übergabe von Gesprächsmitschriften entkräftet. Eine fälschliche Übergabe an einen Überwachten sei technisch quasi ausgeschlossen, da die Dokumente in versiegelten Ledermappen transportiert würden. Nicht jeglicher Ironie entbehrend findet sich im Bundespolizei-Dossier zum Vorfall das Transkript eines Telefongesprächs zwischen Buchbinder und einer Person X vom 29. März 1966, also nur einen Tag nach dem Erscheinen des Zeitungsartikels. In diesem Gespräch erklärt Buchbinder seinem Gesprächspartner den Irrtum im Spiegel-Artikel. Eigentlich sei es in seinen Informationen an den Journalisten um ein fälschlich zugestelltes Briefcouvert gegangen, das Rückschlüsse auf eine Postüberwachung zuliess. Der im Raum stehende Vorwurf einer gröberen Unachtsamkeit in Sachen Telefonüberwachung ist damit durch ein abgehörtes Telefongespräch entkräftet worden.25

Aus einem weiteren abgehörten Telefongespräch resultiert ein Eintrag in der Fiche eines Freundes von Heinrich Buchbinder. Darin erzählt dieser Freund, er habe einen Wachtmeister der Stadtpolizei Zürich dabei erwischt, wie dieser an der 1. Mai-Demonstration 1964 mit einer »Geheimkamera« in der Aktenmappe fotografiert hätte. Er empfiehlt, ein Foto des verantwortlichen Polizisten zu veröffentlichen. Dieses Mal gab es von der verantwortlichen Stelle keine Gegendarstellung. Stattdessen folgte ein Kommentar in der Fiche selbst, der als Weisung zu lesen ist: »ND [Nachrichtendienst] empfiehlt grössere Vorsicht!«26

Abb. 5: Transkript eines abgehörten Telefongesprächs zwischen Heinrich Buchbinder und Herr Jentzer vom 10. April 1962.

Dass die Fichen mit Sorgfalt angelegt wurden und das Verweissystem erstaunlich gut funktionierte, wird an einigen Stellen der Registraturen besonders gut ersichtlich. Etwa dann, wenn zwei Personen in einem abgehörten Telefongespräch über eine dritte Person sprechen. Es kommt vor, dass die Fiche dieser Drittperson einen Verweis auf das entsprechende Transkript des Telefongesprächs enthält und eine Kopie davon im Personendossier abgelegt wird. So findet sich im Staatsschutzdossier von Heinrich Buchbinder auch ein Gespräch zwischen Theo Pinkus und Rose Weiss, die sich nach Buchbinder erkundigte. Die Sachbearbeiter*innen der Bundespolizei hielten die Informationen von Pinkus zu Buchbinder für so relevant, dass sie diese in dessen Dossier ablegten.27 Allerdings nimmt diese Sorgfalt scheinbar im Verlaufe der Jahre ab. Von verschiedenen Personen, die sich intensiv mit den Staatsschutzakten beschäftigt haben, wird eine markante Verschlechterung der Arbeitsqualität des Schweizerischen Staatsschutzes festgestellt, insbesondere für die Jahre 1960 bis 1990. Eine schlüssige Erklärung für diese qualitativen Veränderungen fehlt bislang. Als Grund wird einzig die Konzeptlosigkeit der Überwachung angeführt.28

Öffentliche Veranstaltungen linker Organisationen wurden durch Beamte der Stadt- oder Kantonspolizeien häufig im Wortlaut – inklusive der Diskussionen – transkribiert und diese Transkriptionen an die Bundespolizei übersandt. Interne Veranstaltungen wiederum wurden in seltenen Fällen von Informant*innen überwacht, häufiger jedoch die Protokolle in Postüberwachungen abgefangen. Damit waren die entsprechenden Stellen praktisch zu jedem Zeitpunkt über die Grösse, die Mitgliederzahl, den Zustand und die bearbeiteten Themen der politischen Organisationen in Kenntnis gesetzt. An grösseren Veranstaltungen wie Demonstrationen wurden zusätzlich häufig Fotografien der wichtigsten Personen erstellt und die Parolen auf den Spruchbändern fein säuberlich notiert. Spätestens ab 1951 waren zudem in allen Kantonen die technischen Mittel vorhanden, Versammlungen durch Mikrofone mit Kleinsendern kabellos abzuhören.29

Neben den technischen und polizeilichen Mitteln, die zu Verfügung standen, prägte der gesellschaftliche Kontext die Entstehung der Fichen in vielerlei Hinsicht. Welche Gestalt die Fichen annahmen und welche Informationen sie enthielten, war beträchtlich von sozialen Normen abhängig. Etwa im Bereich der Geschlechter lässt sich feststellen, dass die Fichen und das Fichierte weitreichende Aussagen über die Gesellschaft zulassen, in der sie entstanden sind. Besonders deutlich manifestieren sich die gesellschaftlichen Geschlechterrollen in Fichen von politisch aktiven verheirateten Paaren. E.W. und F.W. heirateten 1962. In der Fiche von Ehefrau E.W. ist vermerkt: »Am 20.7.62 hat sich die bekannte Linksextremistin W. mit dem Funktionär der Soz.Jugend etc. [...] verheiratet.« Nur vier Einträge später folgt 1966: »Die Eheleute W. werden ihre Ferien in Italien verbringen und reisen anschliessend nach Prag.«30 In der Überwachung ihres Ehepartners F.W. scheinen solche persönlichen Ereignisse einen geringeren Stellenwert zu haben und sind keinen Eintrag wert. Die politischen Ereignisse, so beispielsweise die Teilnahme an Sitzungen und Diskussionsversammlungen, sind bei F.W. dafür deutlich detaillierter festgehalten. Das schlägt sich auch im Umfang der Fiche und der Dossiers nieder: Trotz jahrelangem Engagement beider Ehepartner übertrifft das aufgestapelte Papier zur männlichen Person dasjenige zur weiblichen mehrfach. Und auch mit einem Blick auf die gesamte Fichen-Registratur wird das Verhältnis deutlich: Nur 22 Prozent der Fichen verzeichnen Frauen.31

Abb. 6: Von der Polizei heimlich aufgenommenes Foto von Heinrich Buchbinder an einer Demonstration, das in dessen Staatsschutzdossier abgelegt wurde, undatiert.

Die Fiche als Chance

Es zeigt sich also, dass die Fichen in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext entstanden sind und auf einer Überwachungstätigkeit beruhen, die diese Faktoren widerspiegelt. Wer sich mit den Fichen und den Staatsschutzpraktiken beschäftigt, kommt gerade deshalb nicht umhin, sich mit dem Kalten Krieg auseinanderzusetzen. Ohne diese geopolitische Konstellation, die »[...] als dichotome Spaltung der Welt in sämtliche Bereiche der Gesellschaft eindrang und einen zentralen Referenzpunkt selbst in davon abgekoppelten Debatten darstellte«,32 sind die Fichen nicht zu verstehen. Das »Imaginäre des Kalten Krieges« lässt sich in den Fichen besonders gut erkennen. Das, was die entsprechenden politischen Stellen des Staatsschutzes für den »Feind« hielten und überwachen liessen, wurde immer auch durch diese Überwachung produziert und zeigt sich dann in den Fichen in seinen bedrohlichen Ausprägungen.

Besonders deutlich wird diese Komponente des Imaginären, wenn die Fichen im Raster von gesellschaftlich prägenden Kategorien wie Geschlecht untersucht werden. Hier zeigt sich deutlich, dass Frauen ganz grundsätzlich als die kleinere Gefahr betrachtet wurden. Ihre politische Aktivität scheint nicht im selben Masse als Bedrohung für die staatlichen Strukturen wahrgenommen worden zu sein; die Überwachung war lückenhafter und produzierte weniger Akten. Die kleineren Aktenstapel dürften dann wiederum auf die Überwachung zurückgewirkt und die Wahrnehmung einer geschlechtsspezifischen Bedrohungslage nochmals verstärkt haben. An diesen Stellen braucht es eine besondere Sensibilität bei der Arbeit mit diesen Quellen. Ansonsten werden die Positionen und der Anteil spezifischer gesellschaftlicher Gruppen in der Retrospektive noch stärker vernachlässigt.

Doch die Fichen verbergen nicht nur, sie bringen auch immer wieder Verborgenes zu Tage – so etwa Ereignisse, die sich der kollektiven Erinnerung entzogen haben, oder zu denen es sonst keine Nachweise mehr gibt. Die Fichen sind also auch eine Chance, historische Ereignisse neu zu beurteilen und mit neuen Details zu ergänzen. Allerdings muss dabei zwingend in die Beurteilung miteinbezogen werden, was die Überwachung für das Leben der Personen bedeutete, wo es sie einschränkte, wo es gar Lebensläufe drastisch veränderte. Gleichzeitig sollten die Entstehungsbedingungen reflektiert werden, denn schliesslich konnten viele der in den Fichen festgehaltenen Informationen nur durch das Eindringen des Staatsschutzes in eigentlich private Räume gewonnen werden.

Im Gespräch mit ehemaligen Aktivist*innen fällt aber auch auf, dass die Fichen in vielen Fällen trotz der Empörung über deren Existenz eine persönliche Bedeutung erlangt haben. Sie dienen als Orientierungshilfen in teils turbulenten, vielfältigen Lebensläufen und werden dazu benutzt, die Erinnerung an einzelne Ereignisse aufzufrischen. Diese zwiespältige Begegnung mit den Staatsschutzakten kann auch rund um die Stasi-Überwachung in Deutschland beobachtet werden. Cornelia Vismann schreibt zum erstaunlichen Umstand, dass Menschen für den Erhalt von Akten auf die Strasse gehen, die eigentlich von verhassten staatlichen Strukturen geschaffen wurden: »Sie [die Akten] gehörten zum eigenen Ich, konstituierten es, auch und gerade als nicht einsehbare Akten. Das pure Wissen um die Existenz von persönlichen Akten wirkte, selbst wenn ihr Inhalt unbekannt blieb und selbst wenn das Wissen um die amtliche Mitschrift des eigenen Lebens die Verhaltensfreiheit beschränkte, lebensversichernd.«33

Die Verbindung zwischen der Akte und dem eigenen Ich wurde bei vielen Schweizer Aktivist*innen mit der Aushändigung der Fiche verstärkt. Der Umfang der Fiche wurde zu einem Faktor, der durchaus mit »Stolz« erfüllen kann. Wenn auch mit ironischem Unterton stellte ein Freund von Heinrich Buchbinder in einem Kommentar zu seiner eigenen Fiche fest: »Möglicherweise ist es ja nur der Neid, denn deine 130 Seiten haben mich erblassen lassen und doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, hier fehlt einiges...«34 Vielleicht auch gerade weil die hinterlassenen politischen Spuren meistens nicht mehr sichtbar sind, dient die Fiche gewissermassen als Beweis für jahrzehntelanges Engagement.

Der Journalist Martin Schwander hielt in der zweitletzten Ausgabe des Fichen-Fritz fest: »Die Schweiz ist durch die Politische Polizei nicht sicherer geworden, ganz im Gegenteil. Aber die Sicherheit des einzelnen Bürger, der einzelnen Bürgerin war und ist ja auch nie das eigentliche Ziel einer politischen Polizei. Bei uns nicht, so wenig wie anderswo. Eine politische Polizei hat immer und überall nur einen Zweck: Die Sicherung bestehender Machtverhältnisse.«35 Die Fiche bleibt Zeugnis und Mahnmal für den unternommenen Versuch der politischen Aktivist*innen, eben diese »Machtverhältnisse« in Frage zu stellen.

In der letzten Ausgabe des Fichen-Fritz stand denn auch in einer Box: »Das Archiv Schnüffelstaat Schweiz – ASS ist ein langfristiges Projekt, die historische Aufarbeitung des Kalten Krieges bedarf erst noch ihres Anfangs. Umso wichtiger ist, dass jetzt – nach Abschluss der Kampagne um eine Schweiz ohne Schnüffelpolizei – die Fichen und Akten nicht Opfer von Resignation oder Wut werden und im Abfall verschwinden.«36 Diese Aussage gilt auch heute noch, zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des letzten Fichen-Fritz. Es liegt unter anderem an den Historiker*innen, die Aufarbeitung der umfassenden Überwachung während des Kalten Kriegs weiter voranzutreiben und insbesondere auch die Überwachten in diese Betrachtung miteinzubeziehen.

Lucas Federer arbeitet seit 2016 am Historischen Seminar der Universität Zürich am Dissertationsprojekt »Internationalismus und Sachpolitik zwischen den Blöcken. Die trotzkistische Bewegung in der Schweiz, 1945–1969«, das vom Forschungsfonds Ellen Rifkin Hill des Schweizerischen Sozialarchivs finanziert wird. Er ist Mitglied des Doktoratsprogramms des Zentrums Geschichte des Wissens.

Die Fiche bleibt Zeugnis und Mahnmal für den unternommenen Versuch der politischen Aktivist*innen, die »Machtverhältnisse« in Frage zu stellen.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Unbekannt, Demonstration vor dem Bundeshaus gegen die Fichenaffäre, 1990, Bern, Schweizerisches Sozialarchiv (SozArch), Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV), F 5032-Fc-0878.

Abb. 2: Kantonspolizei Zürich (linke Seite)/Sicherheits- und Kriminalpolizei des Kantons Bern (rechte Seite), Buchbinder zugesandte Kopien seiner Staatsschutz-Akte, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ), Nachlass Heinrich Buchbinder (NL Buchbinder) 2c(V)l.

Abb. 3: Titelblatt Fichen-Fritz (1990), Online-Archiv (Ausschnitt).

Abb. 4: Staatsschutz des Bundes, Auszug aus Buchbinders Fiche, Karte Nummer siebzehn, 1957, AfZ, NL Buchbinder 2c(V).

Abb. 5: Transkript eines abgehörten Telefongesprächs aus Buchbinders Staatsschutz-Akte, 1962, AfZ, NL Buchbinder 2c(V).

Abb. 6: Unbekannt, Überwachungsfotographie aus Buchbinders Staatsschutz-Akte, undatiert, AfZ, NL Buchbinder 2c(V).

Literatur
  1. 1

    PUK-EJPD, »Vorkommnisse im EJPD. Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK)«, 22.11.1989, https://www.parlament.ch/centers/documents/de/ed-berichte-puk-ejpd.pdf (18.09.2018).

  2. 2

    Vgl. Georg Kreis u.a.: Staatsschutz in der Schweiz: Die Entwicklung von 1935-1990: Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Bern: Paul Haupt (1993), S. 28–41 sowie Julia Sandor: Ein »Aktengebirge so gewaltig...«: Die kommunikativen Aufgaben der Fichen der schweizerischen Bundespolizei, Zürich: unveröffentlichte Lizenziatsarbeit (2012), S. 4.

  3. 3

    Tagesschau des Schweizer Fernsehens: »Demonstration gegen die Bundesanwaltschaft wegen Fichen-Kartei-Affäre«, 03.03.1990, SRF-Archiv.

  4. 4

    o.V..: »Dieses Land wird zum Alptraum«, in: Der Spiegel 7 (12.02.1990), S. 157–159, http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13498032 (18.09.2018).

  5. 5

    Vgl. Georg Kreis u.a.: Staatsschutz in der Schweiz: Die Entwicklung von 1935–1990: Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Bern: Paul Haupt (1993), S. 33–35.

  6. 6

    Vgl. Markus Büschi: »Fichiert und archiviert: Die Staatsschutz-Akten des Bundes 1960–1990«, in: Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs 24 (2001), S. 319–380, hier S. 325–328.

  7. 7

    Vgl. ebd. S. 328–333.

  8. 8

    Vgl. Josef Zwicker: »Von der Fichenaffäre zur Bergierkommission: Legitimation und Selbstverständnis von Archiven in der Schweiz 1990–2000«, in: Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs 27 (2001), S. 233–248, hier S. 234 und S. 240.

  9. 9

    David Gugerli, Hannes Mangold: »Einleitung«, in: Max Frisch, David Gugerli, Hannes Mangold (Hg.): Ignoranz als Staatsschutz?, Berlin: Suhrkamp (2015), S. 7–26, hier S. 16.

  10. 10

    Vgl. Julia Sandor: Ein »Aktengebirge so gewaltig...«: Die kommunikativen Aufgaben der Fichen der schweizerischen Bundespolizei, Zürich: Hochschulschrift (2012), S. 11–13.

  11. 11

    Auf dieses Desiderat wird verwiesen in: Nicola Behrens: »Zwischen Schnüffelstaat und Staatsschutz: Die Staatsschutzakten im Stadtarchiv Zürich«, in: Angelika Linke (Hg.): Der Zürcher Sommer 1968: Zwischen Krawall, Utopie und Bürgersinn, Zürich: NZZ (2008), S. 111–118, hier S. 117.

  12. 12

    Vgl. Anna Stauffer: »Frauen und der ›Schnüffelstaat‹«, in: Emanzipation: Feministische Zeitschrift für kritische Frauen 16/2 (1990), S. 11.

  13. 13

    Max Frisch, David Gugerli, Hannes Mangold (Hgg.): Ignoranz als Staatsschutz?, Berlin: Suhrkamp (2015).

  14. 14

    Zitiert nach: David Gugerli, Hannes Mangold: »Einleitung«, in: Max Frisch, David Gugerli, Hannes Mangold (Hg.): Ignoranz als Staatsschutz?, Berlin: Suhrkamp (2015), S. 7–26.

  15. 15

    Vgl. beispielsweise Roman Bucheli: »Die seltsame Hinterlassenschaft des Staatsschutzes«, in: Neue Zürcher Zeitung (12.07.2009), https://www.nzz.ch/die_seltsame_hinterlassenschaft_des_helvetischen_staatsschutzes-1.3015643 (18.09.2018).

  16. 16

    Max Frisch, David Gugerli, Hannes Mangold (Hg.): Ignoranz als Staatsschutz?, Berlin: Suhrkamp (2015). S. 57–59.

  17. 17

    Staatsschutz des Bundes, Staatsschutz-Fiche von W.W., 1958–1976, Privatarchiv.

  18. 18

    Persönliches Gespräch mit W. vom 08.08.2017.

  19. 19

    Staatsschutz des Bundes, Staatsschutz-Fiche von Heinrich Buchbinder, 1939–1986, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ), Nachlass Heinrich Buchbinder (NL Buchbinder), 2(V).

  20. 20

    Staatsschutz des Bundes, Fichen von Drittpersonen, an Heinrich Buchbinder übergeben, 1936–1968, AfZ, NL Buchbinder, 3abc(V).

  21. 21

    Georg Kreis u.a.: Staatsschutz in der Schweiz: Die Entwicklung von 1935–1990: Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Bern: Paul Haupt (1993), S. 38f.

  22. 22

    Beispiele solcher Gefahrenberichte sind zu finden in: Staatsschutz des Bundes, »Staatsschutzdossier Proletarische Aktion«, 1942–1959, Schweizerisches Bundesarchiv (BArch), C.08-31.04.

  23. 23

    Eva Horn: »Das Wissen vom Feind: Erkenntnis und Blindheit von Geheimdiensten«, in: Wolbert Smidt, u.a. (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz: Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich, Berlin: LIT (2007), S.257–277, hier S. 263.

  24. 24

    Eine detaillierte Besprechung der sechs verschiedenen Erhebungsmethoden findet sich in: Georg Kreis u.a.: Staatsschutz in der Schweiz: Die Entwicklung von 1935–1990: Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Bern: Paul Haupt (1993), S. 230–242 sowie Markus Büschi: »Fichiert und archiviert: Die Staatsschutz-Akten des Bundes 1960–1990«, in: Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs 24 (2001), S. 319–380, hier S. 350–352.

  25. 25

    o.V.: »Schweiz: Telephon-Kontrolle. Kopien an Alle«, in: Der Spiegel 14 (28.03.1966), S.122f.

    Staatsschutz des Bundes, »Staatsschutz-Dossier Heinrich Buchbinder, Akten zur Telefonüberwachung«, 1966, AfZ, NL Buchbinder, 2ef(V).

  26. 26

    Staatsschutz des Bundes, Fichen von Drittpersonen, an Heinrich Buchbinder übergeben, 1936–1968, AfZ, NL Buchbinder, 3abc(V).

  27. 27

    Kantonspolizei Zürich, »Gespräch zwischen Theo Pinkus und Rose-Lotte Weiss«, Staatsschutz-Dossier Heinrich Buchbinder, 19.12.1968, AfZ, NL Buchbinder, 2ef(V).

  28. 28

    Vgl. Markus Büschi: »Fichiert und archiviert: Die Staatsschutz-Akten des Bundes 1960–1990«, in: Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs 24 (2001), S. 319–380, hier S. 322.

  29. 29

    Vgl. Georg Kreis u.a.: Staatsschutz in der Schweiz: Die Entwicklung von 1935–1990: Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Bern: Paul Haupt (1993), S. 231.

  30. 30

    Staatsschutz des Bundes, Staatsschutz-Fiche von E.W., 1962–1984, Privatarchiv.

  31. 31

    Vgl. Georg Kreis u.a.: Staatsschutz in der Schweiz: Die Entwicklung von 1935–1990: Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Bern: Paul Haupt (1993), S. 23.

  32. 32

    David Eugster, Sibylle Marti: »Einleitung: Das Imaginäre des Kalten Krieges«, in: David Eugster, Sibylle Marti (Hg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges: Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa, Essen: Klartext (2015), S. 3–18, hier S. 5.

  33. 33

    Cornelia Vismann: Das Recht und seine Mittel: Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main: Fischer (2012), S. 142f.

  34. 34

    Staatsschutz des Bundes, Fichen von Drittpersonen, an Heinrich Buchbinder übergeben, 1936–1968, AfZ, NL Buchbinder, 3abc(V).

  35. 35

    Martin Schwander: »Kein Platz für die politische Polizei. Niemand...«, in: Fichen-Fritz 32 (März 1998), S. 8.

  36. 36

    o.V.: ASS – »Archiv Schnüffelstaat Schweiz«, in: Fichen-Fritz 33 (Juni 1998), S. 1.